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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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hinunter, einen spärlich beleuchteten Gang entlang, bis die Frau an eine der Türen klopfte. Wieder mußte ich unterschreiben, diesmal für einen blauen Kittel und eine blaue Kopfhaube. Den Kittel, ohnehin schon der kleinste, zog ich mit einer Schnur, die Tilli aus der Verpackungshalle besorgte, in der Taille so weit hoch, daß ich wenigstens gehen konnte. Die Haube war zu klein. Meine Zöpfe zogen sie immer wieder vom Kopf nach hinten.
    Na, komm erst mal, sagte die Frau, mal sehen, was der Meister dazu sagt. Wir gingen zurück, denselben Weg oder einen anderen, alles sah gleich aus und fremd, nur die tellergroßen, runden Uhren über all den Türen wurden mir schnell vertraut.
    Der Lärm in der Halle war noch stärker geworden. An derhinteren Wand klebte ein Glasverschlag, in dem sich ein Mann mit Papieren und einem Telefon beschäftigte. Hinter dem Glas war es fast still. Der Mann trug einen weißen Kittel und keine Haube. Meister Melzer hatte eine Halbglatze, die er ähnlich zu verdecken suchte wie Dr. Mewes, war mittelgroß und dünn, sein Alter kaum zu schätzen. Saftlos, zerknittert und verrunzelt sah er aus, wie Dörrobst lag seine Hand in meiner.
    Ja, ja, sagte er, ich solle die Haube nur so aufbehalten, aber darauf achten, daß die Zöpfe immer hinten hingen. Sauberkeit sei das höchste Gebot. Schräg gegenüber dem Glasverschlag zeigte die Hallenuhr 7.35. Ich hatte bereits mehr als fünfundzwanzig Pfennig verdient. Mit Nichtstun.
    So, jetzt geht's los in die Dos in die Hos, sagte Tilli. Hier bist du in der Verpackung. Pillen, versteht sich. Also, hier kommen die Pillen oben lose rein und unten in Glasröhrchen wieder raus. Woher die Pillen kamen, erfuhr ich nie. Sie wurden in mannshoch gestapelten, silberfarbenen Blechkästen auf Handwagen in unsere Halle geschafft und in die Öffnung der Abfüllmaschine geschüttet. Pulvriger Staub stieg auf. Mer bruche ken Pille mieh ze schlucke, unkten die Frauen, mer künne us dä Dokter spare. Aus der Abfüllmaschine knallten die Röhrchen auf einen schmalen langen Tisch. Gesäumt von Frauen in blauen Kitteln und Hauben, stumm. Ich sah genau hin. Die Tischplatte war aus Gummi, der Tisch bewegte sich, der Tisch war ein Fließband. Ich erschrak. Fließbandarbeit, hatte man mir im Personalbüro versichert, käme für Jugendliche unter sechzehn nicht in Frage. Ich hatte fürchterliche Dinge über Fließbandarbeit gehört. Das Tempo, hatte es immer wieder geheißen, das Tempo sei es, was einen fertigmache.
    Alles lärmte. Pillen, Röhrchen, selbst Papier wurden von dem allgemeinen Getöse angesteckt. Pillen prasselten in die Behälter, knallten aus den fauchenden Maschinen in die Glasröhrchen, die pillenklappernd auf das Band rasselten, über allem das Stampfen der Maschinen, das Scharren des Fließbandes. Eine Gruppe von Frauen steckte die Verpackung zusammen, faltete die Beipackzettel und schob sie in die Schachtel; einige hatten an der rechten Hand die Kuppen von Daumen, Zeige- und Mittelfinger mit Pflaster beklebt. Eine zweite Gruppe preßte die Pillenröhrchenin die Schachtel und kniffte sie zu. Die dritte Gruppe, am Ende des Tisches, ordnete die fertigen Packungen in Zehnerkartons ein. Sie waren, mehr als die anderen, für den Inhalt der Kartons verantwortlich.
    Ich wurde der mittleren Gruppe zugeteilt. Es war jetzt 7.43. Kümmer dich ein bißchen um das Kind, sagte Tilli zu der Frau links von mir und drückte mich auf meinen Stuhl. Siehs de su, sagte die Frau, ohne mich anzusehen, schnappte mit der linken Hand eine der herangleitenden, länglichen, oben offenen Schachteln, mit der Rechten ein Pillenröhrchen und führte dann beide Hände vor ihrer Brust so zusammen, daß Röhrchen und Verpackung widerstandslos ineinander glitten. Bis dahin vermochte ich ihr mit den Augen zu folgen, doch als sie nun die gefüllte Schachtel, die sie immer noch links in fünf Fingerspitzen locker am unteren Ende hielt, am oberen Ende mit einem gezielten Kribbeln ihrer rechten Fingerkuppen in Sekundenbruchteilen verschloß, konnte ich nur noch die Augen zusammenkneifen. Kapiert? fragte die Frau und hatte schon die dritte Schachtel versorgt, als ich verstört nach einer der Verpackungen griff, ein Röhrchen hineinnestelte und mich mit den vorgefalzten Enden abmühte.
    Will alles jeliert sin, griff nun meine rechte Nachbarin ein. Lurens, so muß de dat mache. So. An diesem Ort klang mir das vertraute Platt tröstlich und ermutigend. Der Lärm schien sich ein wenig in die Gegenstände

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