Das verborgene Wort
zurückzuziehen, das Licht ein bißchen sanfter.
Su mähs de dat. Mit Daumen und Mittelfingerkuppe bog die Frau erst die rechte, dann die linke Pappklappe nach innen und ruckte mit dem Zeigefingerglied die dreifach geknickte Lasche in die Schachtel.
Un fädisch. Häs de jesinn? Auch diese Frau sah mich nicht an. Nur meine Hände, die ihr jetzt, ein wenig ungelenk noch, folgten. Na also, et jeht doch. Es war jetzt 7.50. Meine linken Fingerspitzen griffen die Schachtel, die rechten das Röhrchen, einschieben, Knick rechts, Knick links, Lasche drüber. Hatte man die Schachtel geschlossen, ließ man sie wie ein Stück Dreck aus den Händen fallen. Ich saß in der mittleren Gruppe, mir folgten drei weitere Frauen, ich konnte mich wahllos vom vorüber-ziehenden Überfluß bedienen. Aufzublicken wagte ich nicht, stierte auf Schachteln und Röhrchen, auf meine Hände und die der Frau gegenüber. Nur ihre Hände bekam ich in den gesenkten Blick, Hände, die zitterten, wie ich es bislang nur bei Fräulein Kaasen gesehen hatte, als sie wegen ihrer Krankheit keine Sticknadel mehr halten konnte. Diese Frau aber brachte trotz allen Zitterns Schachtel und Röhrchen mit einem letzten Ruck jedesmal fehlerlos zusammen, wobei ihr Nacken hin und wieder zuckte wie ein gerade geschlachtetes Huhn. Neben ihr langte eine Frau von Zeit zu Zeit mit einer Hand untern Tisch, beugte sich in der ganzen Fülle ihres verblühenden Fetts hinab, um mit vollen Backen kauend wieder aufzutauchen.
Anfangs zählte ich. Um acht Uhr fünfzehn hatte ich zweihundertfünfzig Röhrchen verpackt, die nächste Viertelstunde vertrieb ich mir damit, auszurechnen, was mir das Einschachteln eines einzelnen Röhrchens eintrug. Ich schaffte es nicht. Holte es aber am Abend nach. Schwer war die Arbeit nicht. Warum sollte so etwas für Kinder verboten sein? Das war doch was für Idioten. Bereits eine halbe Stunde später war ich der Ansicht, daß dies nur etwas für Idioten sei. Neun Uhr. Das Band stand still. Frühstückspause. Wir blieben sitzen. Einen Aufenthaltsraum gab es nicht. Tach, Vroni, riefen die Arbeiterinnen einer älteren Frau zu, die einen Kasten mit Milch und Kakaoflaschen vorbeischleppte. Man mußte eine Woche vorher bestellen, so wie damals auf der Volksschule. Ich hatte weder Hunger noch Durst, meine Brote lagen im Spind. Allein würde ich den Weg dorthin nicht finden. Vroni hatte eine Flasche Kakao zuviel und war froh, sie an mich loszuwerden.
Trink, sagte die Frau rechts von mir, in einer Viertelstunde jeht et weiter. Nu loß dat Kenk doch, das war meine linke Nachbarin, dat es doch alles janz neu für et. Verzäll mer leever, wat de am Sonndaach jedonn häs.
Die Frauen redeten alle durcheinander, meine Nachbarinnen über mich hinweg, als wäre ich gar nicht da. Marlies wurde die Frau zu meiner linken gerufen, eine Mittdreißigerin mit stark blondiertem Haar, das am Ansatz fingerbreit dunkelbraun nachwuchs. Selbst wenn sie lächelte, hingen ihre Mundwinkel herab. Ihr Verlobter war in Rußland verschollen, und obwohl sie allesdaransetzte, einen neuen Mann und eine neue Heimat zu finden, war ihr beides noch nicht gelungen. Einen Finger nach dem anderen reckte sie hoch, wenn sie erzählte, wo sie seit ihrer Flucht aus Breslau schon überall gewohnt hatte. Hielt sie dann ihre zehn Finger bis auf einen ausgestreckt und war in Dondorf angekommen, lachten die Frauen und riefen: Un nüng [55] Kääls kanns de och noch dobei dun! Dann ballte Marlies ihre Finger zu Fäusten und biß sich die Lippen. Heute druckste sie herum, zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf in meine Richtung. Och wat, sagte meine rechte Nachbarin. Du kanns ruhisch kalle. Wer ärbeede darf, darf och zohüre. Un dat Weet he jeht op de hühere Scholl!
Ich kannte Frau Frings vom Sehen. Ihr Mann hatte bei der Bahn gearbeitet. Obwohl sie stets beteuerte, daß ihr Herbert >ne jute Kääl< gewesen sei, ließ sie an Männern kein gutes Haar. Dabei fehlte es ihr, wie ich später merkte, nicht an Verehrern. Frau Frings war eine der hübschesten und gepflegtesten Frauen in der Halle. Warum rackerte sie sich hier in Krach und Staub am Fließband ab, statt es sich als Ehefrau gemütlich zu machen? Ich hatte etwa anderthalb Wochen neben ihr gearbeitet, als ich ihr im Waschraum begegnete. Eine Hitzewelle ging über das Land, morgens um neun schon über fünfundzwanzig Grad. Lore Frings trug blondes Haar, Wellen bis auf die Schultern. Sie stand am Waschbecken und hielt die eine Hälfte dieses
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