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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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zur Großvaterweide und sah nichts als unbefleckten, regenspitzen Sand.
    Lange wog ich den nassen Stein in meiner Hand. Er zeigte kein Gesicht. Wahllos raffte ich einen Stein nach dem anderen und schleuderte ihn in den Strom, schleuderte Grauen und Angst vor dem, was mir noch zustoßen würde, aus mir heraus, von mir fort. Friedrich oder Federico, Leben oder Lesen, Gott oder Menschen: Ich sah keinen Ausweg. Auf und ab lief ich am Ufer des Rheins, sah immer wieder zur Großvaterweide und versenkte Stein um Stein und schrie. Tobte, raste, brüllte und schmiß, der Arm wurde schwer im Gelenk. Da wog ich den letzten Stein in der Hand und wartete, bis Jo Kackallers blöde Schönheit, seine schwachsinnige Kraft heraufstieg. Noch einmal klopfte mein Herz zum Zerspringen, dann klatschte der Stein aufs Wasser. Wut und Angst versanken in den Wellen vom Rhein.
    Einen feuchtheißen Wickel um den Hals, Zwiebelringe unter den Füßen, die in zwei Paar Wollsocken steckten, lag ich am nächsten Tag in Schlafanzug und Strickjacke auf dem Sofa in der Küche. Abwechselnd mit Salz und Salbei gurgeln, heiße Milch mit Honig, nichts zu essen. Es klingelte.
    Dat stenk jo he wie bei de Aape! Jibt et Schawu*? Die Tante stürzte zum Fenster. Sühs de dann nit, dat Kenk es krank. Dat Finster blev zo, herrschte die Großmutter sie an.
    * Wirsing
    Mit einem Blick des Abscheus ließ sich die Tante auf einen Stuhl fallen und holte die >Rheinische Post< aus ihrer Einkaufstasche. Knallte den Lokalteil auseinander, daß die sauber geschichteten Kartoffelschalen durcheinandersprangen.
    He, schrie die Tante. Der Großmutter fiel vor Schreck das Küchenmesser aufs Wachstuch.
    Roof ens dat Maria us dä Wäschkösch.
    Wat es dann los, die Mutter hatte den Spektakel schon gehört. Sie band ihr Kopftuch ab, das die Dauerwelle vor dem Dampf der kochenden Wäsche schützen sollte, und lockerte die Strähnen. Ihr Gesicht glänzte rot und verschwitzt. Ich klappte >Soll und Haben< zu. Noch nie hatte die Tante eine Zeitung mitgebracht.
    Lurt ösch dat ens an, sagte die Tante, jetzt in Zimmerlautstärke, und schlug ein paarmal auf das Papier. Die Großmutter brachte ihre Kartoffelschalen in Sicherheit.
    Nä sujet, rief die Mutter entsetzt. Die ärme Kääls.
    Arme Kääls, wat dann ärme Kääls. Dat sin doch Makkaroni, Pimocke, Jesocks. Jitz hürt ens zo. Die Tante nestelte eine Brille aus der Tasche. Das kantige dunkle Gestell verlieh ihrem runden gemütlichen Gesicht eine Strenge, als wollte sie sich selbst auf den Arm nehmen.
    Zwei ganze Spalten füllte der Bericht. Vier Fremdarbeiter in Begleitung Dondorfer Schulmädchen waren in der Eisdiele erschienen und hatten sich dort benommen wie zu Hause. Ein fünfter in himmelblauem, völlig durchnäßtem Anzug sei später dazugekommen, habe Maria, Maria gerufen, wodurch sich die gleichnamige Verlobte des Schmiedegesellen beleidigt gefühlt, was dieser mit einem Fausthieb gerächt habe. Diesem Schlag seien weitere Schläge aller Beteiligten gefolgt.
    Un dat he sin se, sagte die Tante. Die drei Frauen beugten die Köpfe über das Blatt. Do steht: >Fünf finstere Jestalten in der Milschbar. Fremdarbeiter belästijen Dondorfer Männer: Von rechts nach links: Roberto F., Carlo L., Sergio V, Costantino R. und Federico S.< Nä, wat för Name! Se han hie nix ze söke, räsonierte die Tante, die sin he nur henger de Wiever her.
    Jo, pflichtete die Mutter bei, ihre schöne Stunde wolle se han und dann auf Nimmerwiedersehen. Avver zesammehaue muß man se doch daröm nit. Et jenüsch doch, wenn mer se russchmiß.
    Die Großmutter schwieg. In Italien wonnt dä Papst, entschied sie. Die sin all jut kattolesch.
    Hunderte Male hatte ich gelesen, wie sich ein Frosch in einen Prinzen, ein Schwan in einen Jüngling, ein häßlicher, alter Zwerg in einen kräftigen, jungen Mann verwandeln kann. Jetzt ging es umgekehrt. Ich hatte die schmutzigen Fingernägel, die groben Hände, den gelben Kragenrand am Nyltesthemd, die blanken Stellen an den ungebügelten Hosen gesehen, doch diese Einzelheiten nie zu einem Bild zusammengefügt. Was mir nicht gefiel, hatte ich verdeckt mit dem, was mir gefiel. Von den Fingernägeln weg hatte ich in seine Augen, von den schlotternden Hosenbeinen auf die neuen schwarzweißen Schuhe gesehen. Von Federico auf Friedrich. Und hatte ich nicht oft genug von Grafen und Prinzen, Königen und Kaisern gelesen, die sich in schlechte Kleider werfen, Gesicht und Hände schwärzen und bettelnd vor die Tür der Liebsten

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