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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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sagen denn deine Eltern dazu? Du bist doch auch nicht die Kräftigste. Du solltest doch wohl besser zu Hause bleiben und dich erholen. Nein, das mit der Erlaubnis muß ich mir noch einmal überlegen, und das solltest du auch tun, Hildegard. Ans Arbeiten kommst du doch noch früh genug. Und jetzt - er zog das grüne Buch wieder aus dem Schuber - darfst du noch einmal zuhören.
    Ich wagte nicht zu widersprechen. Kam es ihm wirklich nicht in den Sinn, weshalb ich es vorzog, vier Wochen acht Stunden täglich in einer Fabrik statt in einem Buch zu verschwinden? In den Rheinwiesen an die Großvaterweide gelehnt, am frühen Morgen, wenn das Gras noch feucht war, aber die Steine der Kribben schon warm von der starken Sonne eines Sommermorgens! Wenn es kühl von den Pappeln herüberwehte in die Seiten des Buches, wenn alle Stimmen schwiegen, die äußeren und die inneren auch. Hatte der Mann denn wirklich keine Ahnung,weshalb man auf all das verzichtete? Wußte er nicht, warum einer arbeiten ging? Hatte er nie eine Lohntüte gesehen? War er nie im Manko? Seit die Klassenkameraden aus der Volksschule in die Lehre gingen oder >op de Fabrik<, jedenfalls Geld nach Hause brachten, setzte mir die Mutter zu, in den Ferien zu arbeiten. Im Herbst sollte es eine Klassenfahrt nach Süddeutschland zu den Altären Riemenschneiders geben. Von den Eltern würde ich dafür keinen Pfennig sehen.
    Und zum Schluß, der Rektor fuhr ein paarmal mit dem Handrücken über das aufgeschlagene Buch, als wollte er die Verse herauswischen: >Spring and Fall. To a young child<. Der Rektor machte eine Pause. Und wiederholte: >To a young child<. Es war ein kurzes Gedicht, halb traurig, halb froh, wie ich sie liebte. Doch jetzt wollte ich nur eines: raus hier. Noch so viele Gedichte im grünledernen Schuber konnten mir keine Klassenfahrt bezahlen, keine >Gesammelten Gedichte« von Rilke, keine Perlonstrümpfe, keine Pomps. Ich brauchte Geld.
    Zwei Strophen vom Gedicht mit der wandernden Wolke konnten wir schon auswendig, da lag ein dicker Briefumschlag auf meinem Pult. Die Erlaubnis des Rektors und ein Buch: >Die Leute von Seldwyla<. Dr. Mewes hob, als ich mich bedanken wollte, abwehrend die Hand. Geh spielen, sagte er. Die Pause ist bald zu Ende.
    Doris war mit ihren Eltern nach Reit im Winkel gefahren, Gisela nach Oberstdorf, Elfi hatte eine Karte aus Mittenwald geschickt, Monika einen Enzian aus Garmisch-Partenkirchen. Mich hatte ein unleserlicher Krakel für sieben Uhr ans Hauptportal der Maternus KG bestellt.
    Als ich um fünf vor sieben unter der Uhr mit dem vorwärtsrückenden Sekundenzeiger ankam, wartete schon eine Frau auf mich.
    Kommen Sie, sagte sie, ohne jede Begrüßung, griff meine Hand und zog mich ins Gebäude. Hat man Ihnen denn nicht gesagt, daß Sie eine Viertelstunde eher hier sein sollen?
    Hinter der Tür zu einer weiteren Tür hing ein rechteckiger, flacher Holzkasten, der mit Schlitzen versehen war, in denen nur noch wenige Karten steckten. Die Frau griff eine heraus. Palm,
    Hildegard, Aushilfe, las sie und steckte die Karte in eine daneben hängende Kombination aus Standuhr und Fleischwolf. Ein Klacken. 6 Uhr 58.
    Geschafft, sagte die Frau und wedelte mit der Karte. Und jetzt stecken Sie die hier rein. Auf der anderen Seite des uhrenartigen Fleischwolfs hing ein zweiter Kartenkasten, beinah voll. So, sagte die Frau. Ich bin die Mathilde. Aber alle sagen Tilli zu mir. Und du. Wir sagen hier alle du. Einverstanden? Du bist das Fräulein Palm, Hildegard, richtig? Na, das kriegst du schon hin. Aber pünktlich sein mußt du. Wenn du auch nur eine Minute nach sieben stempelst, kriegst du eine ganze Viertelstunde vom Lohn abgezogen.
    Ich verdiente fünfzig Pfennig pro Stunde. Eine Viertelstunde hat fünfzehn Minuten. Nicht einmal einen Pfennig pro Minute verdiente ich. Die Frau sprach das kantige Hochdeutsch der Vertriebenen, die ich längst nicht mehr Müppen nannte, hatte rasche, energische Bewegungen und strich sich immer wieder eine Strähne aus der Stirn. Das hier ist dein Spind, sagte sie. Merk dir die Nummer. Der Raum war lang und schmal, fensterlos, der Gang zwischen den Spinden so eng, daß zwei Frauen nicht nebeneinanderstehen konnten. An der Decke flackerten Neonröhren. Hier ist dein Schlüssel. Und hier unterschreibst du, daß du einen Schlüssel hast.
    Weiter. Die Frau warf einen Blick auf die Uhr über der Tür. Fünf nach sieben. Ich folgte ihr durch eine Halle, durch ohrenbetäubenden Lärm und grelles Licht, eine Treppe

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