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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Haares in der Hand. Der vordere Teil ihres Schädels war kahl.
    Ja, Heldejaad, sagte sie in mein entsetztes Gesicht. Jitz wes du et och. Meine Cousinen hatten vor Jahren von einem schrecklichen Unfall auf der Weberei erzählt. Die halbe Kopfhaut habe es der Frau weggerissen, ritsch ratsch, so die Cousinen damals halb mitleidig, halb schadenfroh; zu eitel, eine Haube zu tragen, sei sie gewesen. Hier bei Maternus sah man Lore nie ohne Haube. Kühn sah sie aus, beinah verwegen, als hielte eine enge fleischfarbene Kappe ihr Haar über der Stirn verborgen.
    Och Lore, sagte ich, ich find das nicht so schlimm. Du siehst aus, ja, du siehst aus wie Sam Hawkins Schwester bei Winnetou. Lore lachte, brach kurz in ein Indianergeheul aus und setzte ihr Haarteil wieder auf. Et jöck wie tausend Möcke, sagte sie. Sachävver kenem, wat de jesinn häs. Die meiste Frauen wessen et. Ävver die Männer nit.
    Nun war klar, warum sie sommers wie winters einen Hut aufsetzte und >et Hötsche< hieß, >das Hütchen<. Und auch, warum sie keinen mehr ranließ, wie die Frauen sich ausdrückten.
    Ob man einen ranlassen würde, unter Umständen ranlassen, jemals ranlassen, eventuell ranlassen, niemals ranlassen würde; ob einer rankommen wollte, ob er noch nicht oder schon oder beinah rangekommen sei, machte den Hauptgesprächsstoff aus. Wenn se esch ens dranjekumme sin, bes de dran, orakelten die Frauen und nickten verschwörerisch.
    Immer wieder mußte Marie Posomierski ihre Geschichte erzählen. Marie Posomierski, geborene Krupp, hatte gegen den Rat von Mutter und Verwandten einen Polen geheiratet, einen Zwangsarbeiter, der nach dem Krieg geblieben war. Nicht zuletzt wegen Marie. Posomierski, so die Meinung des Dorfes, war ein ordentlicher Arbeiter, katholisch und ehrlich, aber Pole bleibt Pole. Vier Kinder, ein Junge, zwei Mädchen, dann noch ein Junge. Eines Abends war das Paar auf der Erpenbacher Chaussee noch ein wenig Luft schnappen gegangen. Plötzlisch stand esch janz allein. Noch nach Jahren wandte Marie in diesem Augenblick ihrer Erzählung erstaunt den Kopf nach allen Seiten. Janz allein. Mir war ja nix passiert, aber der Janusz, der Janusz war weg. Ein Auto hatte ihn der Frau von der Seite gerissen. Jetzt saß Janusz im Rollstuhl, besorgte, so gut es ging, den Haushalt, beaufsichtigte die Kinder, die Schwiegermutter ihn. Alle unterstanden Marie. Wenn dat nit passiert wär, hätt esch ihm E 605 in et Essen jejeben, pflegte sie ihre Erzählung zu beenden. Die Frauen blickten sie bewundernd an. Dä Kääl wor nit uszehale. Jitz frißt er mir us de Hand.
    Keine Nacht, so Marie, hätte er es ohne ausgehalten. Ohne ranzukommen. Manchmal zweimal. Un jitz kütt dä nur noch dran, wenn esch will! Die Frauen nickten bekräftigend. In ihren Gesichtern Schadenfreude und Neid. Den Ehemann so selten wie möglich ranzulassen war offenbar eine Frage der Ehre.
    Meine rechte hatte meiner linken Nachbarin noch nicht entlocken können, ob es auf dem Rückweg von den Möhlerather >Rheinterrassen< zum Äußersten gekommen sei, da setzte das
    Getöse wieder ein, gerieten die Maschinen wieder in Wallung, das Fließband ruckte an.
    Neun Uhr dreißig. Packungen, Röhrchen, Beipackzettel wuchsen durch meine Hände in meine Arme, in meinen Brustkorb und meinen Rücken, den Hintern, den Bauch, die Beine hinunter. Gegen elf konnte ich vor Rückenschmerzen kaum noch sitzen. Ich reichte mit den Beinen nicht auf den Boden, auch meine Arme waren kürzer als die der Frauen, meine rechte Schulter, mein rechter Arm lösten sich langsam von mir und verschwammen in einem lauten Schmerz. Da schob mir, kurz vor der Mittagspause, jemand einen Kasten unter die Füße. Welche Wohltat, den Rücken durchzudrücken, die Beine fest aufzustellen.
    In der Pause, eine halbe Stunde, hasteten wir an die Spinde. Die Mutter hatte Großvaters Blechbüchse poliert, sie glänzte wie altes Silber. Ich nahm ein Klappbrot mit Leberwurst heraus, biß im Gehen hinein und folgte den Frauen nach draußen. Die Bänke im Werkshof reichten längst nicht für alle. Ich setzte mich zu Lore auf die Treppe. Alle packten etwas aus, die meisten Brote, andere löffelten Kartoffel- oder Nudelsalat aus Marmeladengläsern oder klopften hartgekochte Eier gegen die Treppenstufen, daß die Schalen knackten. Vroni brachte Mineralwasser und Limonade, aber die meisten tranken sparsamer, aus ihren Thermoskannen. Die Frauen aßen hastig, mit gebeugten Köpfen, und wieder das einzige Thema: Männer. Ich spitzte die

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