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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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ziehen, um ihr Herz zu prüfen? Immer war unter der häßlichen Schale ein Prinz zum Vorschein gekommen, hatte sich das gute Herz am Ende gelohnt. Hier lohnte sich nichts. Federico sah aus wie ein Fremdarbeiter und war auch einer.
    Fremdarbeiter zählten weniger als Hilfsarbeiter, weniger als der Vater. So arm und so dumm, daß sie zu Hause keine Arbeit fanden. Fremdarbeiter waren das Letzte. Schlimmer waren nur noch die Zigeuner, die wußten nicht einmal, was eine Heimat überhaupt ist.
    Kanacke. Pimocke. Jesocks. Fremdarbeiteraugen, Fremdarbeiterfüße, Fremdarbeiterhände, Fremdarbeiterstimme, Fremdarbeiteratem, Fremdarbeiterkopf. Federico war wirklich gewesen. Aber vor allem ein Friedrich in meinem Kopf. Den hatte nun die Wirklichkeit mit ein paar Wörtern verjagt: Kanacke, Pimocke, Makkaroni. Ich stöhnte. Die Frauen unterbrachen ihre Diskussion und sahen zu mir herüber.
    Wat hät et dann, wandte die Tante mir nun zum ersten Mal ihre Aufmerksamkeit zu.
    Halsping, sagte die Mutter.
    Ich krächzte zustimmend.
    Hät et Feever, fragte die Tante. Nüngedresseschfönf, 39,5, un dat hück morje fröh, erklärte die Mutter stolz.
    Ich ächzte. Häs de Ping [54] ? fragte die Tante. Ich nickte und sah sie so verzweifelt an, daß sie mir die Zeitung zuwarf. Do häs de jet ze läse, du lies doch su jän! Es war aber nur der politische Teil. Den anderen nahm sie wieder mit.
    Ende der Woche war ich wieder gesund. Ich half der Mutter beim Salatpflanzen. Eine Amsel folgte uns. Sie versuchte, einen Regenwurm aus der lockeren Erde zu ziehen. Als es ihr glückte, fiel sie fast hintenüber, und der Wurm hing ihr aus dem Schnabel wie eine dreckige Nudel. Wie gut, daß Federico meinen Namen nicht kannte!
    Den Altar für Schiller räumte ich ab, packte das kunstseidene blaue Portrait und die Kerzenhalter zu den Briefen im Schuhkarton. Gab die Einmachgläser der Mutter zurück. Joot, sagte die, dat de endlisch zur Vernunft jekumme bes.
    Vierzehn, hatte ich gesagt, als ich im letzten Jahr bei der Maternus KG um Ferienarbeit nachgefragt hatte. Vierzehn? hatte die Frau im Büro wiederholt, dafür bist du aber noch sehr klein. Tage später hatte ich einen Brief bekommen, ich möge im nächsten Jahr erneut vorstellig werden. Das tat ich. Eine Bescheinigung der Eltern solle ich mitbringen. Hiermit erlaube ich meiner Tochter Hildegard Palm, in den Ferien zu arbeiten, schrieb ich in mein Schulheft. Die Mutter setzte ihre Unterschrift dazu. Nur unter die Zeugnisse malte der Vater seinen Namen. Eine zweite Bescheinigung verlangte die Werksleitung vom Rektor der Schule. Herr Dr. Mewes, ein hagerer Mann in den Fünfzigern, unterrichtete Englisch und Geographie. Er hatte uns gerade ein Gedicht vorgelesen: >I wandered lonely as a cloud<, dieses Gefühl kannte ich, allein sein, frei sein, über allem schweben, ungebunden, halt- und schwerelos. Der Rektor las mit einer singenden, warmen, einschmeichelnden Stimme, als wüchsen die Gedichte aus ihm heraus: >And then my heart with pleasure fills / and dances with the daffodils.< Nach dieser Stunde bat ich ihn um die Erlaubnis, in den Ferien arbeiten zu dürfen. Er bestellte mich insein Sprechzimmer und las mir dort noch einmal das Gedicht von den tanzenden Narzissen vor und noch eines von einem Tiger, der >burning bright< durch den Dschungel >of the night< läuft. Hatte er vergessen, weshalb ich hier war? Also, Hildegard, er schloß das in dunkelgrünes Leder gebundene Buch und steckte es in einen Schuber gleichen Materials zurück, du willst also in den Ferien arbeiten gehen? Zu Maternus. Das ist doch diese neue Arzneimittelfabrik. Ja, was willst du denn da? Fürs Büro hast du doch gar nichts gelernt. Du willst doch nicht etwa ans Fließband! Du weißt, daß das verboten ist für Kinder, er räusperte sich, und Jugendliche unter sechzehn. Ja. Weshalb willst du denn arbeiten gehen? Von dir hätte ich das am wenigsten erwartet. Ich dachte doch, du hättest andere Interessen! Weißt du denn nichts Besseres mit deiner Zeit anzufangen? Verreist du denn gar nicht? Reisen bildet! Das kannst du mir glauben! Notfalls fährst du zu Verwandten. Hast du denn keine Großeltern, keine Patentante?
    Er sah mich aufmerksam an. Nun gut, also nicht reisen. Zu Hause ist es ja auch am schönsten. Hm. Aber lesen! Kind! Ich denke, du liest so gern! Wer liest, muß nicht verreisen. Wer liest, reist sowieso. Wohin er will. Und wann er will. Mit wem er will. Und wie lange er will. Aber das verstehst du wohl noch nicht. Was

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