Das verborgene Wort
Fräulein sah mich rätselhaft an, eine dicke, verrutschte Klebenaht teilte ihr Gesicht in zwei Hälften, die nicht ganz aufeinanderpaßten. Sie lächelte schief, beinahe verschlagen. Schön es se nit, gab die Tante zu, ävver jeweiht wie die andere och. Sich selbst hatte die Tante eine Muttergottes im Schnee mitgebracht. Sie liebte diese Glaskugeln, in denen nach kräftigem Schütteln auf Heilige, Kirchen, Schlösser, egal, weiße Flocken wirbeln.
Der Brief aus Düsseldorf kam, als die Tante fast alle Madonnen verkauft und so ein gutes Stück ihrer Reisekosten wieder heraushatte. Der Spezialist wünschte Maria sobald wie möglich zu sehen. Die Tante schob die restlichen mißratenen Marienfiguren in eine Ecke. Sie würde mit dem Preis heruntergehen müssen.
Marias Werte waren schlecht. Meta-, Meta-tassen, stotterte die Tante in unserer Küche. Metastasen, verbesserte ich. Es doch ejal, wie et heesch, giftete die Tante verzweifelt. Ich hielt den Mund. Sie hatte recht. Kein Wunder war geschehen. Im Gegenteil. Maria war nicht nur von einer unheimlichen Krankheit heimgesucht, sie war auch eine, bei der kein Wunder anschlug.
Doppelt gebrandmarkt. In der kurzen Zeit zwischen der Rückkehr der Tante und der bösen Nachricht hatte man Maria als Erwählte betrachtet, fast eine Heilige selbst. Nun wurde sie wie eine Aussätzige gemieden. An ihnen, den Frauen, ihren Gebeten, ihrem Glauben, konnte es ja wohl nicht liegen, daß das Unternehmen fehlgeschlagen war. Hatte das heilige Wasser nicht Frau Meutens Muskeln, Sehnen und Bänder gelockert und neu gestimmt? Wie in der Bibel, Steh auf und wandle!? War nicht nach einem Mal Bestreichen mit der segensreichen Flüssigkeit das Wasser aus Karl Röttgers Bein gewichen? Das Feuermal auf Theas Hals verblichen? Die Gürtelrose von Frau Schlamme weg?
Den Vogel schoß Familie Kniepkamp ab. Der Mann aß wieder alles. Wer's nicht glaubte, konnte sich davon >Em Höttsche< überzeugen, wo er Hämschen [57] , Sauerkraut und Erbspüree verschlang und mit Bier und Klarem nachspülte. Sein Magengeschwür, seit Jahren Dorfgespräch, plagte ihn nicht mehr. So, wie wir vor Jahren dem Großvater, hatte seine Frau ihm das heilige Wasser ins Essen gemischt. Un he hät noch nit ens jet dovon je- woß, prahlte sie. Dä jlöv doch nit an so ene Wieverkrom. Ävver jitz doch! Jeden letzten Klaren versetzte Emil Kniepkamp aus seinem Flachmann mit ein paar Lurdäs-Tröpfchen zur Verdauung. Wasser aus Lourdes. Es wirkte außen und innen. Nur bei Maria nicht. Wer geheilt war, war im Stand der Gnade. Wer geheilt war, hatte den wahren Glauben. Maria war eine Sünderin. Eine schwere. Da kam kein Wunder durch. Maria Sündenbock. Maria-selber-schuld. Maria im Schnee.
Nach diesem langen, heißen Sommer waren wir alle ein wenig gebräunt, sahen noch Wochen später gesünder und fröhlicher aus als sonst. Maria war weiß wie das Kleid, das sie auf der roten Kniebank getragen hatte. Sie saß wie immer auf dem Sofa im Wohnzimmer, zwischen der Zimmerpalme und dem Gummibaum, von dessen blanken, fleischigen Blättern die Tante jede Woche einzeln den Staub abwischte. Vor der Palme stand eine Marienfigur, größer hatte keine in den Koffer gepaßt.
Schön, dat de kommst, Heldejaad, isch meine, Hilla. Esch mußjo nun doch wieder rein. Maria vermied jede Benennung ihres Zustandes und alles, was mit ihm zusammenhing, als könne sie durch Verschweigen der Namen die Sache selbst aus der Welt schaffen.
Seufzend zählte sie aus einer der Flaschen Lourdes-Tropfen in ein Glas Saft wie eine Arznei. Wenn et nix nötz, kann et och nix schade, sagte sie und stürzte das Gemisch hinunter.
Sollte ich ihr von meinem mißglückten Weihwasserwunder am Großvater erzählen? Von meinem Versuch, mit der >Ringparabel< eine Mischehe zu stiften? Alles, was Gott zu direkt in die Pflicht nahm, schlug fehl, das stellte sich immer wieder heraus. Es stimmte: Beten schadet nichts. Doch besser als halbe-halbe stand die Chance, erhört zu werden, nie. Zitronen! Zitronen! entfuhr es mir plötzlich. Äpfel! Apfelsinen! Vitamine! Bei Piepers an der Ecke gab es seit zwei Jahren wöchentlich eine Kundenzeitschrift, gratis, das >Nimm-mich-mit-Heftchen<, darin die Rubrik: Praktisches für Haus und Gesundheit«. Vitamin C, hatte ich gerade gelesen, stärke die Abwehrkräfte bis ins hohe Alter. Ich schnitt Maria einen Apfel in Scheiben, die sie, doppelt genäht hält besser, ins geweihte Wasser tauchte.
Erzähl mir wat, bat sie kauend, wat jibt et denn im
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