Das verborgene Wort
Patrizierhaus oder auf preußischen Rittergütern. Dennoch begleitete ich die Mutter ein paarmal in die Kirche, das war ich Maria schuldig. Für sie hatte man zwischen den Kommunionbänken einen Extrasitz aufgebaut, einen rotsamten gepolsterten Stuhl mit passender Kniebank. Immer trug sie ihr weißes Kleid, enge Taille, weiter Glockenrock. Plisseefalten im Vorderteil versteckten die Brust wie unter einem Lätzchen. Eine schöne Braut, besonders von hinten. Nur das weiße Kränzchen und die Myrthe fehlten in ihren Haaren, ein schwarzer Schleier bis auf die Schultern. Maria war da, bevor die anderen Beter kamen, und ging als letzte. Der Küster schloß hinter ihr ab. Männer waren kaum anwesend. Nur in den hinteren Bänken murmelten ein paar Greisenstimmen denen der Frauen hinterher. Gebetet wurden Rosenkränze, der schmerzensreiche, der freudenreiche, der glorreiche, reihum, jeweils einer an einem Abend. Alle der Heilung Marias geweiht. Daran schlossen sich die Fürbitten, allgemeine zuerst, für die Menschheit, das Volk, den Papst, die Bischöfe, die Priester, die Politiker, die Brüder und Schwestern in der Zone,den Kardinal Mindszenty in Ungarn, die Eheleute, die Eltern, die Lehrer; stumme Fürbitten für persönliche Anliegen. Auch diese stillen Gebete werde die Tante, so der Kaplan, der die Andachten leitete, mit nach Lourdes nehmen und dort niederlegen. Die meisten meiner Fürbitten weihte ich Maria, andere Dunja, auf deren zweite Karte wir warteten, und schließlich bat ich Gott, er möge den Vater erweichen, mir das Geld für eine Zahnklammer vorzustrecken.
Eine Abordnung des Frauenvereins geleitete die Tante am Samstagmorgen zur Straßenbahn. Sie trug Schwarz, als führe sie zu einer Beerdigung. Schwarze Kleidung, so das Merkblatt, das man ihr mit anderem Material zur Vorbereitung zugeschickt hatte, sei zwar nicht vorgeschrieben, aber erwünscht, um ein einheitlich feierliches Bild zu präsentieren. Weiße Blusen und Hemden seien ebenfalls willkommen. Die Tante wollte ihre Blusen reinhalten und erst an geweihter Stätte anziehen. Zu den Zetteln, Briefen und Flaschen waren noch Kreuze gekommen, vom daumennagelgroßen, feinziselierten Silber- bis zum Sterbekreuz, Medaillons mit den Fotogesichtern kranker Anverwandter und natürlich Rosenkränze. All das sollte von der Tante lourdesver- edelt zurücktransportiert werden. Röttgers Karl, der Glaser, brachte einen fingerdicken Unterschenkel aus Fensterkitt. Er litt an Wasser, besonders in den Beinen, und hatte solche Abbilder während seines Sommerurlaubs in bayrischen Wallfahrtskapellen gesehen. In letzter Minute ließ auch ich mich von der Wundersucht anstecken und verstärkte meine Gebete um eine Zahnklammer mit einem gereimten Vierzeiler an die Heilige von Lourdes persönlich.
Maria kniete, nachdem die Tante abgereist war, noch aufrechter und regungsloser vor dem Altar. Um die Taille hatte sie eine blaue Schärpe geschlungen wie die Dame aus der Grotte. Am Tag der Großen Fürbitte am Gnadenort fuhr Maria nach Düsseldorf zum Spezialisten. Als die Tante zurückkam, lagen die Laborergebnisse noch nicht vor. Eine Dankandacht wurde gehalten. Maria als geheilt betrachtet. Großer Gott, wir loben dich. Diesmal waren auch Männer in der Kirche. Nur der Pastor hielt sich raus. Ihn hatte man in keiner der Andachten gesehen und sah ihn auch jetzt nicht.
Maria kniete wie verklärt. Abendsonne fiel durch eines der bunten Fenster mit den Darstellungen der sieben guten Werke. >Die Kranken besuchen^ hieß das Bild, eine Frau reicht dem daniederliegenden Siechen einen Becher. Durch dieses Glasstück brach die Sonne und färbte das weiße Kleid Marias rot. Ah, machten die Frauen. Ich nahm es als böses Omen. Rot wie Blut.
Im Haus der Tante gaben sich die Frauen die Klinke in die Hand. Doch die mitgeschleppten Flaschen hatte die Tante alle wegwerfen müssen. Das Wasser aus Lourdes konnte an der Quelle nur in vor Ort geweihten Flaschen gezapft und gekauft werden.
Auf eigene Rechnung hatte die Tante zwei Dutzend Lourdes- Marien mitgebracht, etwa handgroß, ein paar kleiner, wenige größer, Figuren aus beigem Plastik mit blauer Schärpe, gefalteten Händen, barfuß auf einer rosenbekränzten Kugel balancierend. Alles jeweiht, bot sie auf einem Tisch im Wohnzimmer ihre Ware mit weit ausholender Gebärde an. Einigen Madonnen konnte man, wie der von Pihls Agnes, den Kopf abschrauben. Die gingen zuerst weg. Mir schenkte die Tante eine von den kleinen. Das schleierbedeckte
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