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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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zurück. Doför? Sie ruckte ihr Kinn in Richtung der Frau mit den Mauserhaaren.
    Ich blinzelte, kniff die Augen zusammen, klappte die Pupillen nach oben. Das Krankenzimmer war ein Krankenzimmer und blieb ein Krankenzimmer und wollte einem Salon in veilchenblauer Seide und weißem Musselin nicht weichen. Maria blieb Maria und ließ sich nicht in eine >pauvre petite< im rose Rüschenhemd verwandeln. Maria anzusehen tat weh. Nicht, weil die Krankheit sie entstellt hätte. Ihr rundes Gesicht war schmaler geworden, ihre ebenmäßigen Züge blaß und durchscheinend. Noch ringelten sich schwarze Locken um Hals und Nacken. Aber Maria war traurig. Traurig, wie ich nie einen Menschen gesehen hatte. Nicht nur ihre Blicke und ihre Bewegungen, nicht nur ihre Stimme. Die Traurigkeit kam von innen. Ihr Atem vor allem war traurig, als verwandelten ihre Lungen die Luft in Trau-rigkeit, eine ruhige, unheilbare Traurigkeit, die sie über uns ausatmete. Ein Geruch von Traurigkeit aus jeder Pore ihres Körpers. Eine Traurigkeit aus der Anstrengung eines gewaltigen Abschieds, eines wochen- und monatelangen Abschieds: von einer Brust, von den Haaren, vom Aufstehen- und Gehenkönnen, vom Essen und Trinken, vom Atmen.
    Zuerst taten wir geschäftig, packten das Essen aus und wieder ein, trugen Stühle von den anderen Betten heran, die Tante gab den Blumen frisches Wasser, die Mutter legte die Gardinen in Falten. Dann saßen wir einfach da. Es war still. Bis auf das regelmäßige Plopp der Tropfen, die aus dem Glaszylinder in die untere Kugel fielen und dann in den Schlauch mit der Kanüle flossen. In der Ferne das Rauschen von Autos, das Tuten von Schiffen. Eine Fliege stieß sich an den Fensterscheiben wund, ihr Brummen machte die Stille dick wie Gelee. Eine der kahlen Frauen begann pfeifend zu schnarchen. Die Tante machte das Fenster auf, das Insekt entwich, draußen würde es sterben, geradeso wie hier drinnen. Das Schnarchen verebbte. Der Apparat am Bett vis ä vis von Maria brach in piepsende Vogellaute aus. Die Frau fuhr auf und klingelte nach der Schwester. Die rüttelte ein wenig an der Verbindung zwischen Glaszylinder und Kugel, bis der Piepton verstummte.
    Manchmol lööf et ze flock, erklärte Maria. Im späten Winterlicht nahm ihr Gesicht eine graue Farbe an. Ich fürchtete mich vor ihren Bewegungen. Jede, nicht nur die des Kopfes, brachte Haar und Kissen irgendwie in reibende Berührung. Im Zimmer hing keine Uhr. Wir saßen und schwiegen.
    Nu sach doch ens ener jet, sagte schließlich Maria. Die Tante räusperte sich. Die Mutter seufzte. Wir schwiegen. Heldejaad, wandte sich Maria an mich. Weiß du dann nix? Ken Kinno? Du bes doch immer am Läse. Ich schrak zusammen. Lesen? Ja. Aber doch nur für mich. Nicht zum Erzählen.
    Ja aber, stotterte ich. Also, in der Schule nehmen wir jetzt Gedichte durch. Das war gelogen. Meine Geschichten wollte ich für mich behalten. Mit Gedichten war ich freigiebiger. Ich hatte immer ein paar im Kopf.
    Ach herrje, sagte die Tante. Jedischte! Nä! Wo et sisch hinten reimt. Sie lachte unlustig. Dat es jet för en dä Scholl.
    Waröm dat dann? sagte Maria. Waröm kein Jedischt. Heldejaad, wat kanns de dann?
    Ich stand auf. Faltete die Hände über dem Bauch und heftete den Blick auf den Kleiderständer. >Der Knabe im Moor<, murmelte ich. Lauter, bat Maria. Die Mutter, die Tante rückten die Stühle näher. >0 schaurig ist's, übers Moor zu gehen<, schmetterte ich. Eine der kahlen Frauen schreckte hoch und drehte den Kopf in unsere Richtung. >Wenn das Röhricht knistert im Hauchen Ich zog das >ö< von >Röhricht< gewaltig in die Länge. Die zweite Kranke setzte sich auf und hörte zu. >Sich wie Phantome die Dünste drehn und die Ranke häkelt am Strauche.< Die Frau mit den Haarlücken - ihr Besuch hatte sich schon verabschiedet - rührte sich nicht, blieb daliegen mit dem Rücken zur Wand. Aber sie schob die Bettdecke von den Ohren. >Unter jedem Tritte ein Quellchen springt<, ich tat ein paar Hüpfer auf dem beige- braungefleckten Linoleum, >wenn aus der Spalte es zischt und singt. O schaurig ist's übers Moor zu gehn / wenn es wimmelt vom Heiderauche.<
    Ich blieb nicht ein Mal stecken. Die Tante faßte es nicht. Nit emol steckejeblevve, nit emol! wurde sie nicht müde zu wiederholen. Sie mußte Schlimmes in der Schule erlebt haben.
    Die Mutter sah voller Zweifel auf die Tante, auf mich und nickte widerstrebend. Dat es jo noch ens joot jejange, sagte sie, und ich wußte nicht, ob sie damit meinen

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