Das verborgene Wort
Händen sahen ihre abgearbeiteten Hände aus, als gehörten sie einer anderen Rasse an.
Die Haare wachsen wieder, sagte er ausweichend, sobald wir die Chemotherapie absetzen! Alles andere... Er brach ab und machte dieselbe Handbewegung, wie sie Dr. Mickel gemacht hatte - Handteller nach oben, Handteller nach unten -, als der Großvater im Sterben lag. Alles andere liege in Gottes Hand, hatte Mickel dazu gesagt. Dieser Doktor ließ alles offen. Dieser Doktor gab die Hoffnung auf Hoffnung nicht weiter an einen höheren Ort.
Sie ist jetzt ganz ruhig, sagte er. Sagen Sie ihr auf Wiedersehen und dann gehen Sie. Kommen Sie gern morgen wieder. Jeden Tag. Besser kurz und oft, als nur am Sonntag und dann zu lange.
Das regt nur unnötig auf. Der Mann hatte gut reden. Eine Fahrt nach Düsseldorf dauerte drei Stunden und kostete hin und zurück pro Person ein paar Stundenlöhne.
Maria lag in den Kissen, weiß wie Kalla bis in die Lippen. Die Augen blicklos offen. Die Kanüle wieder im Arm. Keine von uns faßte sie noch einmal an. Auch die Tante nicht. Ich konnte Maria nicht mehr erkennen. Nicht, weil ich sie mit Bildern bedeckt hätte. Meine Augen brannten von Tränen. Wirklichen Tränen.
Sobald wir zu Hause waren, suchte ich die bronzefarbenen Vorhänge meines Boudoirs herunterzulassen, mir eine Perlenschnur auf dunkellila Seide umzulegen und meinen Kopf in großen, welken Rosen zu vergraben, die aus einer Kristallschale dufteten.
Die Wörter blieben auf dem Papier. Ihre verschlingende Magie, die Wirklichkeit auslöschende Kraft, war verschwunden. Im Bett neben mir lag der Bruder und atmete ruhig und laut. Wie kalt es im Zimmer war, ich zitterte trotz der heißen Sandflasche an meinen Füßen. Nicht mehr stille und sonnige Gärten, helle und unbewegte Teiche, Karauschen und schnatternde Enten im Schilf, nicht mehr den Geruch des sonnenwarmen Wassers, der sonnenwarmen Weiden, Blüten, weich wie Menschenlippen, nahm ich mit in den Schlaf. Aber Kopfkissen ohne Zahl und mit schwarzen, verlorenen Haaren.
Sigismund war schon lange zurück. Wir sahen uns selten. Mitte Januar hatten eisige Fröste eingesetzt. Von Mandelentzündungen geplagt, verließ ich das Haus nur, wenn's unbedingt nötig war, vermummt bis unter die Augen. Wir schrieben uns. Die Tage unterschieden sich nach solchen mit und ohne Post. Neben dem Schreiber wurde der Bruder die wichtigste Person in meinem wirklichen Leben. In seiner steifen, schweinsledernen Aktentasche trug er Himmel und Hölle. Anfangs machte er sich einen Spaß daraus, sein gutmütiges Jungengesicht raffiniert zu verstellen, wenn er sah, wie es mich nach seiner Mappe zog, doch bald war er fast ebenso betrübt wie ich, wenn er, befragt von meinem angstvoll gierigen Blick, den Kopf schütteln mußte. Oh-
nehin waren es kärgliche Zettel, die da aus Latein-, Geschichtsoder Erdkundebuch kamen.
Liebe Hilla, stand da, >Hilla< von Herzen umkränzt, >Liebe< mit Kreuzchen. Heute abend spiele ich wieder in der Turnhalle. Morgen abend gehe ich zum CVJM. Die Großmutter ist abgereist. Wir lesen jetzt >Die Judenbuche<. Wie geht es Deinem Hals? Bis zum letzten Rechenkästchen Kreuzchen. Unten rechts, Siggi, fliegenbeinklein. Was zählte, waren die Kreuzchen. Daß er an mich dachte. Was ging es mich an, ob Sigismund seine Abende beim Christlichen Verein Junger Männer verbrachte oder beim Badminton-Spiel? Nicht was, daß er schrieb, war wichtig. Dies war der Funke, den meine Phantasie brauchte.
Aus der >Hörzu< schnitt ich einen Halbstarken im Parka, die Schultern hochgezogen und nach vorn zusammengeschoben. Eines meiner Reclamheftchen zeigte Schiller im Halbprofil, den Kopf auf den weichen Kragen und die gerüschte Hemdbrust geneigt, die aus einer offenstehenden Jacke mit drei bis zu den Schultern heraufreichenden Knöpfen hervorwellt. Die zarten Striche des Originals waren längst nicht mehr zu erkennen, so oft hatte ich den Kopf schon durchgepaust. In vielen Farben, vornehmlich rot, verzierte der Schöne manches Deutschheft und natürlich meine >Briefe als Gedichtet
Diesen Paus-Kopf schnitt ich mit Fräulein Kaasens Nagelschere aus und setzte ihn dem Parkajüngling auf die Schultern. Das war mein Sigismund. Ihn lehnte ich, wenn ich dem Obersekundaner schrieb, an die dunkelgrünen Lederbände, an >Schwüle Tage, Fürstinnen^ >Am Südhangs >Wellen<, lehnte ihn an Rilkes >Gedichte< aus der Reihe >Die Bücher der neunzehn<, an >Gockel, Hinkel und Gackeleia<. >Keine Puppe bin ich / nur eine schöne
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