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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Vortrag meinte oder das Gedicht. Wie konnten sie ahnen, daß ich Zeilen vertauscht, Reime, ja ganze Verse erfunden hatte, um mich nicht vor Aufregung zu blamieren.
    Die Sonne war untergegangen. Marias Gesicht nicht mehr zu erkennen. Sie hatte sich während des Gedichts kaum bewegt, nur als ich, ganz die >verdammte Margrets gerufen hatte: >Hoho, meine arme Seele!< hatte sie ihren Kopf ein paarmal hin- und hergeworfen.
    Wie schön du spreschen kannst, Heldejaad, sagte Maria und streckte ihre Hand nach mir aus. Sie war heiß und trocken und ließ die meine nicht mehr los. Ich setzte mich wieder. Kanns de noch eins? Ich nickte. Aber nit so was Aufrejendes, bat sie. Ich sagte ihr noch den >Panther< und >In einem kühlen Grunde<. Eine der Frauen schluchzte laut auf. Ich hätte mich ohrfeigen können.
    Diese letzten Zeilen: >Ich möcht am liebsten sterben / da wär's ganz einfach still !< gehörten nicht in ein Krankenzimmer. Traurige Gedichte waren Gedichte für Gesunde. Mit >Herr, schicke, was du willst< suchte ich meinen Fehler wiedergutzumachen. Doch nun räsonierte die Tante: Dat es doch e Jebet und kein Jedischt. Maria aber wiederholte versonnen die ersten Zeilen, seufzte und sprach dann die letzte noch einmal: >Doch in der Mitten liegt holdes Bescheiden^ Jo, dat es wohr, sagte sie. Die Mitte is jut. Avver mir hät he ze viel vom Schleschte jejovve [58] . Sie seufzte noch einmal und rutschte ein Stück tiefer. Auf dem weißen Kissen blieb ein schwarzes Gespinst zurück.
    Eine Schwester riß die Tür auf. Die Besuchszeit ist zu Ende, rief sie, ihre Stimme voll schallender Zuversicht, und knipste das Licht an. Hier muß doch keiner im Düsteren sitzen. Ist doch alles bezahlt. Alles inklusive. Haha.
    Maria zuckte zusammen, eine Haarsträhne hing ihr locker, nur von den anderen Haaren noch gehalten, überm Ohr, als habe sie dort ein falsches Haarteil allzu nachlässig hineingesteckt. Die Schwester, eine knochige Person mit hochtoupierter, ergrauender Krause, blieb einen Augenblick vor den Betten stehen und griff den Raum mit ihren Augen blitzschnell ab. Oh, machte sie. Oh, oh, oh, ließ sie die Luft stoßweise ihrem Mund entweichen, wobei sie die Lippen neckisch kräuselte, oh, oh, oh, was haben wir denn da? Beugte sich über Marias Kopf und zupfte die Haare vom Kissen. Oh, oh, oh. Das gespielte Bedauern machte die Genugtuung in ihrer Stimme noch greller. Mit spitzen Fingern hob sie das Büschel in die Höhe, stieß noch einmal einen ihrer zerhackten Oh-Laute aus, bis jeder im Raum ihrer Beute Beachtung zollte, und ließ dann die Haare hoch oben los. Langsam, langsam schwebten sie durch das künstliche Licht, im Raum, im Fall, eine unstete, schaukelnde Bewegung, als schüttelten die Haare den Kopf, als wollten sie noch einmal innehalten, als sei in der Luft, in der Sichtbarkeit noch nicht alles verloren und erst im Behälter am Boden alles zu Ende. Auf dem Weg aus den Fingern der Schwester in das graue Gefäß schienen die Haare zu verfallen, fielen auseinander, einzelne Haare hielten sich länger in der
    Schwebe, aneinanderklebende sanken schneller, ein paar kamen aus der Bahn und legten sich auf die Bettdecke.
    Die Tante sprang auf, als wolle sie der Schwester an den Kragen, die Mutter fiel ihr in den Arm. Nä! schrie Maria, nä, brüllte und keuchte sie. Nä! Sie ließ meine Hand los, fuhr sich mit beiden Händen in die Haare, zerrte an ihren Haaren, hielt ihre Haare in den Händen, starrte auf ihre Haare, warf die Haare nach allen Seiten, die Kanüle rutschte aus der Nadel in ihrem Arm, die Flüssigkeit lief in die Laken. In den Mund stopfte sich Maria ihre Haare, versuchte, sie hinunterzuschlingen, würgte und röchelte. Die Schwester war aus dem Zimmer gelaufen. Die Tante hielt der Tochter die Arme fest. Der Arzt kam schnell, ein großer, schöner Mann, blond und wohlgenährt, das blühende Leben und die Ruhe selbst. Sein Kittel stand offen, er trug dunkelblaue Hosen und einen gelben Pullover mit einem hellblauen Hemd, die kalte Luft des Januarabends hing noch in seinen Kleidern.
    Maria hielt die Haare vor den Mund gepreßt, würgte mit vorquellenden Augen. Warten Sie bitte draußen, sagte der Arzt. Minuten später kam er zu uns: Es war der Schock, sagte er. Die Schwester kriegt was von mir zu hören.
    Die Tante schluchzte und berührte den Doktor am Arm, wie im Dorf den Pastor. Herr Dokter, stammelte sie, kann mer denn jar nix für et tue?
    Der Doktor tätschelte der Tante die Hand. In seinen weichen, rosigen

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