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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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beugt, das in ihrem Schoß lag. So wie das >Haus vom Nikolaus«, das man malen muß, ohne abzusetzen. Später, als ich Sigismunds Sammlung von Kunstpostkarten sah, entdeckte ich, daß er etwas Picassoartiges hatte zustande bringen wollen. Ich entschloß mich, das Gebilde zu bewundern. Liebe Hilla, schrieb er, wir sind umgezogen - wirklich große Neuigkeit -, nächste Woche fahre ich zu meinen Großeltern nach Hameln. Ich komme erst im neuen Jahr wieder. Ich wünsche Dir frohe Weihnachten und ein gutes, neues Jahr. Dein Siggi. Das Dein war von Kreuzzeichen eingerahmt, lauter Einmaleinszeichen, Kußzeichen. So hatte es bei Doris und Robert auch angefangen. Erst Kreuze, dann Küsse. Kreuze auf Papier, Küsse auf den Mund. Kreuze reichten mir. Mein Herz suchte Nahrung, keine Sättigung. Ich wollte träumen, nicht leben, ersehnen, nicht erlangen.
    Mit dem Zettel von Sigismund und den Büchern in dunkelgrünem Leder hielt ich meine Welt in Balance. Ob ich zu Hause den Hühnern ihr Futter streute oder der Mutter, deren Hände, wie jedes Jahr vor Weihnachten, vom Kettenknipsen krankgeschwollen waren, Kohlen, Kartoffeln oder saure Bohnen aus dem Keller holte, ob ich in der Straßenbahn mein Deutschheft zum Abschreiben kreisen ließ: meine Herrenhäuser und Schlösser, Gärten, Parks und Pergolen standen bereit. Nur die Schulstunden klammerte ich aus und die Gespräche mit dem Bruder.
    Kurz nachdem er in die Quinta versetzt worden war, hatte ich ihn beiseite genommen. Hinter dem Hühnerstall übten wir, wie ich seinerzeit auf dem Speicher: >Eine gut gebratene Gans, mit goldener Gabel gegessen, ist eine gute Gabe Gottes.< Ich, mich, dich, das und was, Kirche, Kirsche, Nein, nein, nein. Es half nicht viel, der Bruder hing an seinen alten Spielkameraden, und die hätten ihn mit >das< und >was< einfach stehenlassen. Sprich wenigstens in der Schule so, riet ich ihm, wie Englisch oder Latein, das habe ich am Anfang auch getan. Es geht dann mit der Zeit immer leichter. Isth ghuth, hauchte der Bruder und grinste.
    Von Dondorf nach Schloß Paduren war es nur ein Satz, dort war ich zu Haus, die Altstraße hinein, an Piepers Laden vorbei und die Lindenallee hinauf, durchs Eisentörchen zur Auffahrt zum weißen Herrenhaus. Ich eine schöne Frau im Pikeekleid, das Haar sehr dunkel unter dem schwarzen Spitzenschleier, meine Züge von wunderbar ruhiger Regelmäßigkeit, bräunlich, blaß, schmal. Meine kleinen Hände, schwer von Ringen, ruhten im Schoß, wartend, daß er sie küsse, wenn er denn käme mit leichten, hastigen Schritten durch die dämmrigen Zimmerfluchten, zynisch und schneidig in seiner Leutnantsuniform unter dem blaßgrünen Parka, von der die Knöpfe mit seinen Ohren um die Wette glühten wie kleine Feuer. Oder er hatte sich schon umgezogen und trug nun seinen weißen Flanellanzug. Zynisch und schneidig, gewiß, aber empfindsam auch mit seinem verhaltenen, hochmütigen Lächeln, eine stachelschalige Frucht. Die Tür zur Bibliothek stand offen, dort saß ich, die Hände im Schoß, und würde erröten, den Kopf kaum heben: Erwarten Sie mich um Mitternacht auf der Bank im Park, und eine Träne würde auf meine Hand fallen. Rannte ich in den Garten, um die Kaninchenaus den letzten Kohlköpfen zu jagen, von der Großmutter mit Topfdeckeln unterstützt, wandelte ich zwischen den Rosenrabatten, schritt die Kieswege entlang, fuhr Rosen und Georginen über die taufeuchten Köpfe, aß von den sommerheißen Johannisbeeren, stand unter den Berberitzen und atmete den feuchten Erdgeruch ein, ging zurück in den Holzschuppen, zurück in meinen Salon, ganz in Himmelblau und Weiß, setzte mich im hellgeblümten Sommerkleide an meinen Schreibtisch und machte Notizen, ein wenig Tagebuch, einen Brief an die Patin, und rückte den Stuhl an den Kamin im Salon, der sich langsam mit Mondschein füllte.
    Gleichgültig, was in den Geschichten geschah, es war ihr Geruch, ihre Ruhe, die sonnendurchflutete Atmosphäre gesicherten Müßiggangs. Die Geschichten dufteten nach heißen Blättern und Früchten, dehnten sich aus der Stille, vom Flimmern der Mittagshitze bis in das Glitzern des Weihnachtsschnees. Ich liebte die Verhaltenheit, mit der man seinen Gefühlen Raum gab, wenn man sich überhaupt Rechenschaft ablegte über das, was in einem vorging; liebte die Regelmäßigkeit, ja Starre, mit der das Leben hier in seinen Bahnen lief, liebte es, in Kleidern aus heller Seide zu gehen, halblaut mit dem Major zu sprechen, an einem Tisch zu sitzen, weiß

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