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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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womöglich sogar in die Augen, war eine Mutprobe fast wie beim Vater. Die Mutter wäre hübsch gewesen mit ihrem welligen, rotbraunen Haar, den grasgrünen Augen, den ebenmäßigen Zügen und Zähnen, hätte nicht auf ihrem Gesicht stets ein Ausdruck gelegen, der die schönen Einzelheiten verwischte: ängstlich, verdrossen und verschreckt; geduckt, nach einem Ausweg, einem Vorteil schielend. Etwas Unfrohes, Gepreßtes ging von der Mutter aus, das auf mich übergriff, sobald ich in ihre Nähe kam.
    Niemand sprach bis Strauberg ein Wort. Nicht bis Möhlerath. Bis Düsseldorf. Mit Bahn und Bus dauerte die Fahrt fast eine Stunde länger, kostete aber pro Person achtzig Pfennig weniger. Ich mußte voll bezahlen, die Tante gab der Mutter die Hälfte dazu. Von Zeit zu Zeit seufzte die Tante, dann begann Hanni zu hüsteln, und ich starrte noch gezwungener zum Fenster hinaus. Keine von uns hatte es eilig, ans Ziel zu kommen. Ich umklammerte das Papier in meiner Manteltasche.
    Es war nicht leicht gewesen, das Richtige zu finden. Ich hatte in der Schülerbibliothek gesessen, bis der Hausmeister mir das Licht abgedreht hatte. Welche Gedichte passen zu einer jungen, sterbenskranken Frau? Die der Liebste wegen dieser Krankheit verlassen hat. Der Gott nicht helfen will. Jedenfalls bis jetzt nicht. Hoffen, glauben, beten bis zuletzt, sagten die Gedichte, die für die Tante Gebete waren. Das sagte der Ohm auch. Außer diesen Gebetsgedichten gab es nicht viel für Maria.
    Ich hatte drei Bücher durchforscht. Eine >Auswahl deutscher Gedichte für höhere Schulen< von Theodor Echtermeyer. >Das Hausbuch deutscher Lyrik<, gesammelt von Ferdinand Avena- rius. Und ein drittes, ganz modernes, das soeben erst angeschafft worden war: »Ewiger Vorrat deutscher Poesie<, besorgt von Rudolf Borchardt.
    Es wurde viel geklagt, gestorben, verlassen, geschieden, gemieden. Damit konnte ich Maria nicht kommen. Und das Beherzte, Kräftige, Kecke? Konnte ich an ihrem hohen Bett >Wem Gottwill rechte Gunst erweisen< vortragen? >Das Wandern ist des Müllers LustIm Märzen der Bauer«? >Feiger Gedanken bängliches Schwanken«? >Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt«? Konnte ich ihr, die Heribert so schnöde verlassen hatte, >Ich ging im Walde so für mich hin< vorlesen? Oder: >Früh, wenn die Hähne krähnAsra<, >welche sterben, wenn sie lieben«? Konnte ich in das Plopp der Chemikalien sprechen: >Wie herrlich leuchtet mir die Natur«? In ihre traurigen Augen die herrlichen Verse: >0 Mädchen, mein Mädchen, wie lieb ich dich! Wie blickt dein Auge! Wie liebst du mich!«? Vor dem Behälter für ausgefallene Haare: »Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt / glücklich allein ist die Seele, die liebt«? Durfte ich an ihrem Bett das Lied vom >Lindenbaum< singen, diese todessüchtige Verlockung in den Selbstmord, oder vom Tännlein«, vom >Rößlein< und seinen »Hufeisen« lesen? Nicht einmal »Über allen Gipfeln ist Ruh« traute ich mich bei Maria aufzusagen. Im Angesicht ihrer Krankheit, im Angesicht des Todes, bekamen alle Gedichte einen anderen, verkehrten Sinn. Sie trösteten nicht mehr. Ich wußte noch nicht, daß Schmerz und Trauer im Gedicht erleichtern und froh machen können.
    Schließlich verzichtete ich darauf, mich mit Auswendiggelerntem in Szene zu setzen, und schrieb Maria ein langes Gedicht ab, die »Legende vom Hufeisen«. Jesus kam mit seinen Jüngern an einem heißen Sommertag des Weges und sah »etwas blinken auf der Straß'/ Das ein zerbrochen Hufeisen was«. Der Aufforderungjesu, »Heb doch einmal das Eisen auf!«, nachzukommen, ist »Sanct Peter« zu faul. Jesus, »der Herr«, hebt es selbst auf, verkauft es und erwirbt vom Erlös Kirschen. Diese Kirschen läßt er eine nach der anderen fallen, so daß Petrus, durstig, ermattet, erhitzt, sich »gar vielmal nach den Kirschen bücken« muß. Worauf »der Herr mit Heiterkeit« verkündet: »Thät'st du zur rechten Zeit dich regen, / Hätt'st du's bequemer haben mögen. / Wer geringe Dinge wenig acht't / Sich um geringere Mühe macht.« Auch Tante und Mutter würde diese Geschichte gefallen. Aus den Brettern, die wir vor Jahren mit dem Großvater im Bollerwagen nach Hause gefahren hatten, hatte der Vater immer fluchend die Nägel entfernt. Was er geradebiegen konnte, behielt er, die krummen durfte die Großmutter vom Stallboden auflesen. Kamder Lumpensammler, band sie ihre grobe Schürze ab und lief ihm, das Kästchen mit den Nägeln schwenkend, an Piepers Eck

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