Das verborgene Wort
entgegen, wo er an seinem dreirädigen Auto lehnte und die Eisenglocke schwang. Kam sie zurück, klapperte sie mit dem Kästchen wie der Küster bei der Kollekte, und der Bruder und ich wurden nicht müde, die wunderbare Verwandlung rostiger Nägel in klingende Münze zu bestaunen.
Hanni tat, je näher wir dem Krankenhaus kamen, als interessiere sie jedes Schaufenster. Heftig mit dem Zeigefinger auf die Scheibe pochend, versuchte sie die Mutter für Mixer zu erwärmen. Rudi hatte ihr einen zu Weihnachten geschenkt. Die Mutter hatte von Mixern keine Ahnung. Sie fror. Wir froren alle. Gingen aber keinen Schritt schneller. Dennoch standen wir schließlich vor dem Haupteingang. Hanni pumpte noch ein paarmal Luft aus dem roten Gummiball in ihre Kehle. Wie auf ein Kommando zogen wir unsere Mützen tiefer in die Stirn. Dann mußten wir hinein, in das Gebäude mit der Aufschrift »Frauenleiden«, die erste Treppe hoch, vorbei an »Geburten«, höher zur »Chirurgie«, bis zur Station ohne Aufschrift.
Heute waren alle Betten belegt. Drei der Frauen hatten schon Besuch. Ein Mann und ein Kind saßen so dicht hinter der Tür, daß wir sie hochscheuchten und das stickige Zimmer in eine künstliche Munterkeit geriet. Die Tante, hastig ans Fenster stürzend, hielt mitten in Schritt und Bewegung inne. Maria war kahl. Kahl und grau mit trüben Augen aus roten Höhlen. Wesen einer anderen Art. Verschworene einer geheimen Sekte.
Tach Mama, sagte Maria. Sie versuchte nicht mehr zu lächeln. Doch schien sie auch nicht mehr so traurig wie beim letzten Mal. Sie wirkte, als spiele sie eine Kranke; offenbar in die Rolle, die ihr nun einmal zugeteilt worden war, ergeben. Eine andere gab es für sie nicht mehr. Die Tante setzte sich auf die Bettkante, die Mutter auf den einzigen noch freien Stuhl. Hanni und ich blieben stehen. Nebenan erzählte eine alte Frau der jungen im Bett, offenbar ihrer Tochter, die Katze sei tot. Unter die Straßenbahn gekommen.
Die Tante räusperte sich. Wie auf Verabredung hatten wir unsere Mützen aufbehalten.
Hier, Maria, Hanni nestelte etwas aus ihrer Tasche. Die is för desch. Es war eine Strickmütze. Genau wie die unseren. Dottergelb.
Treck ens an, tat die Tante geschäftig und zog Maria die Mütze über den Kopf. Marias Handgelenk war geschwollen und blutunterlaufen. Da sei die Vene zu oft gestochen, erklärte sie gleichmütig.
Maria mit der Mütze sah fast wie früher aus. Sie sah so aus wie wir. War wieder eine von uns. Uns Gesunden. Wir verloren unsere Panik. Maria, die Kranke, war in den Schutz einer dottergelben Strickmütze geflüchtet, gesundgetarnt. Als habe sie sich eine Zauberkappe übergestreift, war sie nicht mehr ihre Krankheit. Nicht mehr ihre Kahlheit. Maria war Maria, die Tochter, die Schwester, die Nichte und Cousine. Eine Frau. Hanni erzählte von ihrem Mixer und von Kochrezepten. Rudi hatte einen Fernseher gekauft. Er wollte die Olympischen Spiele in Rom sehen. Maria aß am liebsten immer noch Nudeln und Reis. Doch reden übers Essen konnte sie schon wieder, besonders über verrückte Gerichte.
Hanni guckte jede Woche »Clemens Wilmenrods den Fernsehkoch, wobei die Tante meist den Kopf schüttele, lachte Hanni, und Nä sujet, nä sujet murmele, wenn Wilmenrod ein Hähnchen mit Cognac übergieße oder eine Ente zusammen mit Apfelsinen in einem Topf brate. Besser gefiel der Tante, ein Stück Weißbrot zu nehmen, Butter drauf, aber nicht zu knapp, dann gekochter Schinken und darüber eine Scheibe Käse, am besten Emmentaler. Das Ganze fünf Minuten in den Ofen. Un dann, die Tante machte eine Pause und erhob die Stimme. En Schiev [59] Ananas. Op dä Kies! Un dann, die Tante war jetzt so laut, daß alle ihr zuhörten, op die Ananas jehööt en Keesch! Ävver nit nur su vom Boom! Et muß en Marokkanerkirsche sin! En Marokkanerkirsche, wiederholte die Mutter andächtig. Un dat Janze, krönte die Tante ihren Leckerbissen, heesch: Toost Hawajih.
Mein Gedicht war entbehrlich. Es machte mir nichts. Geschichten und Gedichte wurden nur gebraucht, wenn die Wirklichkeit nicht ausreichte. Wenn man nicht nur sein und habenwollte, was man war und hatte. An diesem Nachmittag war uns die Wirklichkeit genug. Ich war froh, daß Maria froh war. Aus der wirklichen Welt in eine andere zu schlüpfen, eine wärmere, hellere, schwerelosere, dazu kann eine Strickmütze so gut verhelfen wie ein Gedicht.
Niemand mochte die Dämmerung verscheuchen. Zwei Frauen hatten ihre Nachttischlampen angeknipst. Vor dem
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