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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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erzählte er mir gleich in der ersten Mittagspause zwischen zwei Happen, die er aus einem Schinkenbrot herausriß, wobei er den Belag mit den Fingern auseinanderzerrte. Er wurde Tag für Tag von einem pummeligen Mädchen abgeholt mit langem, Marina-Vlady-strähnigem Haar. In den ersten zwei Wochen trug sie unter ihren weiten Röcken gestärkte Petticoats. Ab der dritten Woche verzichtete sie auf diese sperrige Zutat und machte sich ohne Zwischenstopp im Café Haase mit dem Studenten direkt auf den Weg an den Rhein.
    Die meisten Arbeiterinnen in der Verpackungshalle kannte ich aus dem Vorjahr. Es hatte sich wenig geändert. Der Meisterthronte in seinem Glasverhau, die blaubekittelten Frauen saßen mit gesenkten Köpfen rechts und links vom Fließband. Mehr Frauen an einem längeren Band.
    Nicht zu hoch, nicht zu tief, nicht zu weit nach rechts, nicht zu weit nach links, nicht zu weit nach hinten, nicht zu weit nach vorn bewegten sie ihre Hände. Im Takt. Exakt. Ich hatte Mühe mitzuhalten, schob es auf einen Mangel an Übung, ungelenke Finger, und brachte die Frauen rechts von mir mit dem, was ich liegenlassen mußte, immer wieder in Bedrängnis. An einen Ausritt mit Sancho Pansa, wie ich ihn mir abends zurechtgelegt hatte, war nicht zu denken. Es gelang mir weder eine Flucht in den Kopf noch in diese Grauzone zwischen Kopf und Körper, die man abschalten, wegtreten, dösen nennt. Dämmerzustand. Keine der Frauen sprach ein Wort, richtete sich nicht einmal auf, um den schmerzenden Rücken zu reiben, oder duckte sich unters Band nach einem Bissen. Als es zur Frühstückspause klingelte, ließen wir, was wir gerade hielten, fallen, als hätte man auch unseren Händen den Strom abgedreht.
    Na, Hilla, begrüßte mich Lore Frings erst jetzt und ließ sich schwerfällig von ihrem Stuhl gleiten. Is dir wat aufjefallen? Wie komms de denn diesmal mit dem Band zurescht?
    Gar nicht, sagte ich, und preßte beide Hände ins Kreuz.
    Ja, nickte Lore, dat kommt alles von dem Refa-Mann. Du weißt doch, letztes Jahr. Dä mit dä Stoppuhr. Dat Band läuft jetzt zwanzisch Prozent schneller. Dat merkt mer. Ävver weeß de wat, Lore rückte näher. Mir Frauen haben auch unsere Tricks. Mir falten die Zettel nur noch zweimal, und dann rin domit. Notfalls quetschs de dat Röhrschen fest drauf, zu und ab. Hauptsache schnell. Wie et da drin aussieht, jeht keinen wat an. Lore kicherte.
    Das Tempo blieb mörderisch. Nach der Mittagspause schien das Band noch schneller zu laufen, zuckten und ruckten unsere Finger noch hastiger hin und her. Kein Flattern der Hände, keine kurze Kraftlosigkeit, kein Aufrichten konnte man sich leisten, ohne die eigene Arbeit der Nachbarin aufzubürden. Einmal warf ich einen Blick auf die Frau gegenüber. Bruchteile von Sekunden nur, schon gerieten meine Hände aus dem Takt, und ich grapschte den Röhrchen und Schachteln, die sich vor mir auftürmten und durcheinanderfielen, hinterher. Ich spürte einen
    Rippenstoß von rechts und traute meinen Augen nicht. Blitzartig fegte die Nachbarin den ganzen Haufen vom Band unter den Tisch. Dat machs de in der Pause fertig, zischte sie mir zu, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Weiter jetzt.
    Ich war nicht die einzige, die nacharbeiten mußte. Auch Tilli und Frau Hilgers, deren Zittern mir schon im Vorjahr aufgefallen war, kramten nach Röhrchen unter dem Tisch. Ich half ihr. Sie dankte, widerstrebend und mißtrauisch. Ungeduldig wartete Lore, bis der letzte Handgriff getan war. Sie mußte mir noch mein Spind zeigen. Die Polizei hatte es in der letzten Woche aufgebrochen, erst heute morgen war ein neues Schloß angebracht worden. Das Spind von Röschen Fietz. Sie hatte ein zurückgezogenes Leben im Haus ihrer Mutter geführt, ging arbeiten, weil ihr zu Hause die Decke auf den Kopf fiele. Nötig habe sie es nicht. Jetzt war sie mit einem Itacker durchgebrannt, wie es hieß. Was Röschen bewogen hatte, Mutter, Haus und Rente im Stich zu lassen, war allen ein Rätsel. Das Dorf spekulierte, ob die Witwenrente auch in Italien ausgezahlt würde. Wenn nicht, sei et flöck widder he. Als ich Kittel und Haube in das verlassene Spind hing, schien dem dunklen Schlitz ein Geruch von Sünde und Liederlichkeit zu entweichen. Sekundenlang sah ich das verlegen lächelnde Gesicht Sigismunds vor mir. Ich knallte die Tür zu, rannte an dem verdutzten Pförtner vorbei ins Freie und mußte noch einmal umkehren. Stechkarte vergessen.
    Er stand da, wo Sigismund hätte stehen sollen. Er trug seinen

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