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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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zusammen. Was sollte das heißen? Warf er mir vor, auf die Kirmes zu gehen? Hätte er mir das nicht zugetraut? Weshalb nicht? Hielt er es meiner für unwürdig, auf die Kirmes zu gehen? Sie müssen sich entscheiden, hatte der Prokurist gesagt. Hornissenluchs, wie er jetzt allgemein genannt wurde. Sie müssen sich entscheiden, wo Sie hingehören. Zu Hause faltete ich den Zettel auseinander und strich ihn glatt, drehte ihn um und sah eine mit zweierlei Rotstift sorgfältig ausgemalte Rose. Die Ränder vom Pauspapier waren gut zu erkennen. Dein Peter, stand darunter, ganz in Blau, der Farbe der Wegwarte, der Farbe der Treue. Wenigstens hätte er nach gebrannten Mandeln geschmeckt.
    Nach den Sommerferien hatte der Rektor eine Liste umgehen lassen, wer einen Austauschschüler in der Familie aufnehmen wollte. Mädchen zu Mädchen, Jungen zu Jungen. Ich gab das Papier gleich weiter. Plumpsklo und Waschen im Ausguß machten jeden Gedanken an Gastfreundschaft zunichte.
    Zu Doris kam Agneta. Sie war klein und zierlich, bleich wie das Nordlicht ihrer Heimat. Ihr spitzes Gesicht mit kleinen, seidigen Ohren, Elfenohren, weiß wie Nivea-Creme, verschwand unter einer Fülle eisblonden Haares. Ihre kühlen blauen Augen waren ein wenig geschlitzt, die Lider leicht gerötet, die Lippen unter der etwas zu breiten Nase ein schwungvoller, blaßroter Bogen. In einem langen blau-weißen Gewand, das ihr vom Hals hinab glatt auf die Füße fiel, sah sie wie die Schneeprinzessin aus, die ich wegen ihrer Grausamkeit als Kind so sehr gefürchtet hatte. Agneta sprach, als kollerten ihr köstliche, süße Sachen im Munde herum.
    Und was für Sachen sie erzählte. Wenige Tage nach ihrer Ankunft durfte Doris für das Mädchen aus Schweden eine Party geben. Eine Einladung zu Kaffee und Kuchen und zu einer Bowle, Pfirsich oder Ananas, die tatsächlich ein paar Spritzer Wein enthielt, daher Party. Es gehörte dazu, nach ein, zwei Gläsern so zu tun, als sei uns das Getränk gewaltig zu Kopf gestiegen. Was wir genausogut hätten laut sagen können, prusteten wir uns in die Ohren, lachten übertrieben laut und kreischten ausgelassen. Jungen waren dabei. Auch das gehörte zu einer Party.
    Horcht auf, sagte Agneta nach zwei Gläsern Ananasbowle, horcht auf, ihr Jungens und Mädchens. Sie hob den rechten Arm, daß ihr der weite Ärmel bis über den Ellenbogen zurückfiel und den Unterarm frei machte, schön geschwungen, mit einem Flaum weicher weißer Haare, was mich an Doris' Sonnenhaut im September erinnerte. Ihr Kleid aus blauem Samt fiel auf rote Knopfstiefelchen. Von diesen Stiefelchen konnte ich die Augen kaum lösen. War Agneta am Ende Karen, das hoffärtige Mädchen mit den roten Schuhen, das tanzen mußte, tanzen, tanzen, bis ihm der Henker aus Mitleid die sündigen Schuhe mitsamt den Füßen abhieb? Die alsdann allein, körperlos, nur Füße und Schuhe, über die Erde tanzten bis ans Ende der Welt, während die einst so stolze Karen auf Krücken Buße tat bis zu ihrer Erlösung? Agneta begann zu singen. Niemand hätte eine so gewaltige Stimme in dieser zierlichen Person vermutet. Diesem schmächtigen Brustkorb, diesen kaum geöffneten Lippen, dieser leicht nach hinten gelehnten Kehle entwichen Töne, so warm und voll, so schwerelos schwebend, als sängen die Töne selbst und hätten sich diesen Mädchenkörper aus Schweden nur geliehen.
    Die einzelnen Laute bestrickten uns; die Melodie klang sonderbar verdreht, als seien die Noten von ihren Linien gefallen und rettungslos durcheinandergeraten. Wir klatschten zögernd, verlegen. Agneta machte das Licht wieder an und verbeugte sich, die Hände vor der Brust gekreuzt, feierlich, ernst.
    Ob wir wüßten, was sie gesungen habe. Kopfschütteln, verneinendes Gemurmel. Das will ich wohl meinen, daß ihr das nicht wißt, kullerte es. Ihr habt auf >Großer Gott, wir loben dich< gehorchet!
    Ungläubiges Gemurmel. Die Melodie dieses Liedes kannten wir doch alle. Sollte sie auf schwedisch so anders klingen? Agneta nickte heftig. Jawohl, >Großer Gott, wir loben dich<. Aber von hinten!
    Eine blasse Röte war Agneta in die Wangen gestiegen. Ihre blauen Augen funkelten.
    Von hinten! platzte Doris heraus.
    Ja, von hinten, bestätigte Agneta. Das Melodie...
    Die Melodie, fiel Doris' Mutter ein.
    Die Melodie, wiederholte Agneta gehorsam, die Melodie und die Wörter, alles von hinten, alles verkehrt herum. So treibt man den Teufel aus. Aus jedem Kind, aus jedem Mann, aus jeder Frau, aus jedem Haus, den Teufel

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