Das verborgene Wort
Zurückhaltung der Dichter. Doch wozu dann die unzähligen Anläufe, um im >et< ans Ziel zu kommen? Für en Sekund? Es wäre ja noch zu begreifen, wenn einige Spezialisten sich um >Et-is-en-Sekund< bemühen würden, wie Sprinter, die hundert Meter unter zehn Sekunden schaffen wol-len. Sollte das, worauf die ganze Menschheit aus war, wirklich nur eine Sekunde dauern? Die Mutter mußte sich verzählt haben. Doch sie hatte mit einem solchen Ernst und solcher Überwindung gesprochen, daß ich nicht zweifelte, zumindest sie selbst habe >et< nie länger als eine Sekunde erlebt.
Wieder machte der Bruder den Briefträger. Sigismund und ich setzten unsere Gespräche auf dem Papier fort, füllten die Seiten mit schönen Sätzen, großen Gefühlen, erhabenen Visionen. Kußkreuzehen kamen uns nun kindisch vor. Wir trafen uns hinterm Damm bei den Weiden am Rhein. Heimlich. Die Treffen waren kurz. Meist war ich vor Sigismund da. Stand bei der Großvaterweide und fror, schöne Sätze im Kopf, schöne Zeilen, Strophen. Goethe hatte Schiller längst den Rang abgelaufen. Es ging um einen einzigen Menschen, nicht um die ganze Menschheit. Ich fühlte für einen, nicht für alle. Ob alle Menschen Brüder würden, war mir egal. Wenn nur der Freude schöner Götterfunken Sigismunds Herz für mich entzündete. Der Wind sauste durch die Pappeln, die letzten Blätter hinwegfegend, ließ das dürre Schilf zusammenklappern, preßte die Gischt um die Kribben und über die Kiesel am Ufer. Doch kaum tauchte in der Ferne ein schwankendes Lichtlein auf, Sigismunds Fahrradlampe, wie herrlich leuchtete mir die Natur. Nichts mehr von feuchtem Nebel und sensensausendem Wind, kahlen Bäumen und Schilfrohrgeklirr, Zimbeln und Cembalo, Psalter und Harfe wachten auf. Es lachte das Auge, es lachte die Flur, das Fahrrad kam näher, Sigismund sprang ab.
Tach, na endlich, murmelte ich.
Schon da? drückte Sigismund zwischen den Zähnen hervor. Die Freude sprang uns aus den Augen. Hier, unter freiem Himmel, in der schnell einbrechenden Dämmerung später Novembernachmittage, verging uns die alberne Aufschneiderei unserer Gespräche und Briefe. Einsilbig tasteten wir uns ein Stück weit am Ufer entlang, das der grauglänzende Strom schwach erleuchtete, durch das Fahrrad getrennt wie durch Siegfrieds Schwert. Wir gingen und schwiegen. Jedes Wort konnte die Fassung, die uns das Fahrrad verlieh, zerstören, jeder Satz dazu führen, daß das Fahrrad fiel, uns einfach aus den Händen fiel, aus unseren Händen, die es gemeinsam führten, Sigismund links, ich rechts.
Ließe einer los, würde der andere es nicht halten können, nicht halten wollen, das Fahrrad würde ins Trudeln geraten, außer Kontrolle. Fallen. Wir umklammerten die Lenkstange, jeder auf seiner Seite. Stolperte einer, mußte ich kichern, als hätte man mich gekitzelt. Von der Großvaterweide bis zum Ende des Schilfs schoben wir das Rad gemeinsam.
Ich muß fort, sagte ich. Sigismund nickte. Ich zog die Hand vom Lenker, bevor er sie streifen konnte.
Bis dann, sagte Sigismund, seine Hand griff dahin, wo meine gelegen hatte.
In den Bäumen hing die Nacht, und es standen die Pappeln wie aufgetürmte Riesen da, Sigismund schwang sich in den Sattel, ich sah ihm nach mit nassem Blick, seinem Katzenauge am Hinterrad, wie es den Damm hinauf zuckelte, aufblitzte und jäh verschwand, wenn der Freund die Böschung hinabsauste.
Im Holzstall schrieb ich ihm, was ich ihm gern gesagt hätte, schrieb seitenlang von großen Büchergefühlen, bis ich leicht war und frei, einen Zettel zu kritzeln, den der Bruder mit nach Möhlerath nehmen konnte.
Seit dem Dreikönigstag war der Himmel klar, und die Temperaturen fielen noch weiter. Nach Wochen weichen Westwinds, nach Stürmen und Schneefall waren die Tage strahlend kalt und hart, Bäche, Tümpel und Teiche gefroren, Eisschollen auf dem Rhein. Nur die Großmutter erinnerte sich an einen noch kälteren Januar. Dick zugefroren sei der Rhein damals gewesen, erzählte sie, der Pastor habe das Eis gesegnet, Zelte habe man aufgeschlagen und zur Musik der Schützenkapelle mitten auf dem Rhein getanzt.
Die Weihnachtsferien waren zu Ende. Wie in jedem Jahr hatte Sigismund seine Großeltern besucht. Ich würde ihn heute wiedersehen. Um Punkt acht Uhr, rief die Mutter mir nach, als ich, vermummt bis unter die Augen, das Haus verließ. Der Punkt war ihr heilig. Sie stand mit dem Wecker in der Tür, wenn ich nach Hause kam. Eine Minute Verspätung konnte den nächsten Ausgang
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