Das verborgene Wort
arme Hanni kriege davon Asthma. Sie schnappe schon nach Luft, wenn sie den Reitanzug ihres Mannes sähe und röche, selbst wenn der gar nicht drinstecke. Das kam mir doch sehr übertrieben vor. Wie Eifersucht auszusehen habe, war mir bekannt, so wie das Wüten Quasimodos, das Leiden Anna Kareninas oder König Markes, die Verzweiflung Emma Bovarys, Morels Selbstmord: Verzweiflung, ja, aber Asthma? Asthma aus Eifersucht? Davon hatte ich noch nie gelesen. Ebensowenig wie von der Eifersucht auf eine Frau bei einer Frau.
Wieder fehlte mir für das, was ich fühlte, das erlösende Wort. Ich war ja auch nicht nur auf Agneta eifersüchtig, sondern auf beide. Ich fühlte mich ihnen unterlegen, den Blonden, Gepflegten, die mit ihren Vätern in die Stadt zum Kleiderkaufen fuhren. Ich war eifersüchtig auf beide.
Am Tag vor Agnetas Abreise meinte Gisela nach der Turnstunde, wir sollten uns aufstellen und unsere Beine vergleichen. Prüfen, ob sie sich an Wade, Knie und Oberschenkel gleichzeitig berührten. Gisela war von uns allen am kräftigsten entwickelt. Sie trug Büstenhalter ohne Schaumgummieinlage und hatte einen Freund, der schon Referendar beim Oberlandesgericht war, las Frauenzeitschriften und war in Fragen moderner Lebensart allen voraus.
Also stellten wir uns vor den großen Spiegel neben der Sprossenwand und kontrollierten. Die Beine von Agneta trafen bei den drei kritischen Punkten mühelos aufeinander. Alle bewunderten sie, so, wie sie in all den vergangenen Tagen bewundert worden war. Auch Doris' Beine waren makellos. Agneta bewunderte Doris und Doris Agneta. Bei mir doch auch, rief ich und preßte die Beine zusammen. Doris sah gar nicht hin.
Abends schlich ich vor den Spiegel der Frisierkommode im Elternschlafzimmer und hob den Rock hoch, verdrehte die Beine und knirschte mit den Zähnen.
Am nächsten Morgen war der Platz neben Doris wieder frei. Ich blieb bei Elfriede in der ersten Bank. Ich könne dort besser sehen. Einige Male besuchte ich Doris noch, bevor unsere Schulzeit zu Ende ging. Abends fuhr ich nach Hause.
Später vertraute mir der Religionslehrer an, Agneta sei nicht getauft, für die arme Seele beten solle ich. Agneta ein Heidenkind. Kein Wunder, daß sie und ihre Sippe so sonderbare Vorstellungen vom Heiligen hatten. Nicht einen Fitzel Silberpapier war sie mir wert. Ich sah sie in der Hölle braten. Sollte sie selbst zusehen, wie sie da mit >Großer Gott, wir loben dich< von hinten wieder rauskam.
Über der rheinischen Tiefebene hing der November, naßkalter Totenmonat, der Himmel anthrazit und porös wie Braunkohle, die schwelt und nicht brennt, Wiesen, auf denen sich im Nebel und Regen die Herbstzeitlosen auflösten, Pilze in Hexenringen, lilaschwarz auf hohen, wässrigen Stielen.
Sigismund bekam einen Blauen Brief, mangelhaft in Latein und Mathematik, die Versetzung gefährdet. Seine Mutter sagte der meinen, ich sei kein Umgang für ihren Sohn. Meiner Mutter war das Wasser auf die Mühle. Erst Peter Bender, jetzt Sigismund Mix. Es würde böse enden mit mir. Sitzenbleiben werde ich, nicht in der Schule, aber im Leben. Tage später hatte sich ihre Meinung ins Gegenteil verkehrt. Wat dat herjeloofene Wiev, Sigismunds Mutter, sich bloß einbilde. Von wegen ich sei kein Umgang für ihren Sohn. Bei diesen Worten habe dat Wiev hocherhobenen Hauptes die Küche ausgespäht, als suche sie nach Spinnen, Wanzen, Kakerlaken. Ävver nit bei us, so die Mutter, mir sin sauber. Und wer hier sitzenbleibe, sei ja auch klar. Nicht ich, sondern der feine Pinkel. Das war nun Sigismund. Aber, fügte sie dann und in höchstem Hochdeutsch hinzu, mir flüchtig die Schulter streifend, wenn du den Sijismund treffen willst, hab isch nix dajejen. Ejal, ob der evanjelisch es. Die Ahl muß davon nix wissen. Nur paß auf! Die Mutter faßte meinen Arm mit beiden Händen und sah mich mit verzweifeltem Verschwörerblick an: >Et< is en Sekund, mi nit. >Et< is en Sekund, denk dran. Dat met däm Italjäner es jo noch ens jut jejange. Errötend bis unter die Haarwurzeln, ließ sie mich los, klapperte mit den Ringen, wie es sonst nur die Großmutter tat, und fragte, ob ich einen Bratapfel essen möchte.
Schon wieder >et<. Sogar aus dem Mund der Mutter. Doch wieso eine Sekunde? Dauerte >et< nicht länger als eine Sekunde? Dann täten die großen Dichter am Ende recht daran, diese Sekundenkleinigkeit nicht zur Sprache zu bringen. Wörter konnten bei diesem Tempo kaum mithalten. War >et< wirklich nur en Sekund, erklärte das die
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