Das verborgene Wort
Seit Tagen waren die Eisblumen auf den Fensterscheiben immer dicker geworden. Ich rieb die Füße an der Steinhägerflasche. Das Zimmer war schwarz vor Kälte, ich aber fühlte mich geborgen in Sigismunds Armen und schmeckte seine Zunge, lebendiges Pfefferminz. Alles hatte sich im Bereich der schönen, anständigen Wörter abgespielt, Lippen, Zunge, Speichel, Sigismunds Zähne, sein leichter
Unterbiß. Am besten aber war die Wärme gewesen, dachte ich, mit den Zehen an der heißen Sandflasche spielend. Die Wärme inmitten all der Kälte und daß ich hatte träumen können mit offenen Augen in den Sternenhimmel hinein. Träumen, als wäre ich einfach nur da. Wie ein Stern, ein Stein, eine Weide am Rhein. Noch im Schlaf hörte ich das Krachen der Schollen, das Ächzen des leblosen Eises, als liefe der Frost ihm durch die Adern und bräche es in seinem Herzen entzwei.
Am nächsten Tag schickte mir Sigismund eine seiner Kunstpostkarten, Kurven und Linien zu einem geknäulten Paar geformt, der >Kuß< von Picasso. Er habe Bronchitis und müsse nach der Schule ins Bett.
Ich hatte Sigismund geküßt. Das reichte. Seit dem wirklichen Kuß von Sigismund küßte ich Heinrich und Friedrich, Harras, Botho, Caspar, Etzel, Tonio, Hans; Junge und Alte, Kluge und Dumme, Böse und Gute, >Edelmann, Bedelmann, Doctor, Majore Ich küßte sie alle. Männer. Frauen nie. Doris' Kuß zählte nicht mehr. Ich kostete meine Gefühle aus, ohne den lästigen Umweg über den Körper, ohne daß mir ein wirklicher Arm, ein wirkliches Bein, eine Hand, eine Zunge im Weg war. Ohne Wirklichkeit stirbt die Phantasie. Aber ein Händedruck, ein Lächeln, ein Streicheln, ein Zettel reichen aus, sie in Bewegung zu halten.
Vergeblich wartete ich auf ein Wort von Sigismund. Das Träumen wurde schal. Da brachte der Bruder die Nachricht: Sigismund hatte Lungenentzündung.
Als käme ich ihm damit näher, besuchte ich Maria. Jetzt, Anfang Februar, war die Kälte noch immer ungebrochen, die vereisten Straßen leer. Die Fenster der Tante standen dunkel, ich klingelte bei Hanni.
>Was kann der Sijismund dafür, daß er so schön ist?< sang sie statt eines Grußes. Schnell rein, komm!
Ich nestelte an meinem Schal, den Handschuhen, der Mütze.
Tu nit so, sagte Hanni, isch weiß alles! Nu erzähl mal! Wills de ein Stück Streusel?
Ich wollte. Aber von mir und Sigismund erzählen wollte ich nicht. Und auch nicht wieder Hannis Beichten hören, so wie damals, als sie von Federico erfahren hatte.
Der Sigismund ist doch krank, sagte ich. Ich hab den schon wochenlang nicht mehr gesehen. Lungenentzündung.
De Lungen? entsetzte sich Hanni und griff nach ihrem Atemballon in der Kitteltasche. Un sehen könnt ihr eusch auch nit. Deine Mama hat mir erzählt, du wärs für die nit jut genuch! Dat is ja schlimmer wie damals mit dem Ferdi. Dat is ja ne Trajödie!
Maßlos übertrieben, fand ich. Da kannte ich ganz andere Geschichten.
Hast du schon von der Tragödie in Ronningen gehört? Was der Frau vom Apotheker passiert ist? Es steht ja auch schon gedruckt.
Ich machte eine Pause. Hanni räumte Tassen und Teller ab, breitete die Wolldecke und ein altes Bettuch wieder über eine Hälfte des Tisches.
Nä, Hilla, sagte Hanni, dat hat die Mama noch nit erzählt. Isch hab sie auch seit ein paar Tagen immer nur janz kurz jesehen. Du weiß ja, die un der Rudi sin schlimmer wie Honk un Katz. Aber nu erzähl mal.
Hanni dehnte sich behaglich in den Schultern, nahm ein Wäschestück nach dem anderen aus einem Weidenkorb, knallte es ein paar Mal in die Luft, führte das Bügeleisen millimeternah an die Wange, strich mit sicheren Bewegungen über Handtücher, Kopfkissen, Unterhosen, legte die Stücke säuberlich getrennt aufeinander, und ich ließ mir den Duft frisch gebügelter Wäsche in die Nase steigen. Von Zeit zu Zeit, besonders bei den steif gestärkten Blusen, Schürzen und Hemden tunkte Hanni die Fingerspitzen in eine Emailleschüssel und schwenkte die Hand über dem knitterigen Stoffstück. Alles, ohne genau hinzusehen, ohne Konzentration auf das, was sie tat, so, wie ich am Fließband die Pillen gepackt hatte. Hanni hatte ihre Hände zum Bügeln geschickt und mußte sich nun nicht weiter um sie kümmern.
Ich weiß nicht, begann ich, ob du die Sankt-Annen-Apotheke in Ronningen kennst.
Hanni verneinte und schüttelte die Tropfen sprühende Hand über ein kariertes Oberhemd.
Also, die Sankt-Annen-Apotheke, nicht weit vom Markt, ich hatte keine Ahnung, ob Ronningen einen
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