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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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zunichte machen. Die Mutter genoß ihre Macht. Und daß ich ihr dankbar sein mußte. Punkt acht.
    Mit jedem Schritt von zu Hause weg ging ich vorwärts in mei- ner Lebenszeit, wurde älter und unabhängiger, bis ich, nicht alt, nicht jung, von nirgendwo kommend, Sigismund gegenüberstand. Ging ich zurück, verlief dies umgekehrt, und wenn ich um Punkt acht klingelte, war ich wieder das halbwüchsige Mädchen, aufsässig und geduckt. Dazwischen lag eine Zeit fast wie die in den Büchern oder am Fließband. Die Zeit verschwand. Nur noch Sigismund war da und seine Stimme. Immer war es schon dunkel, wenn wir uns trafen, und wir flüsterten wie Menschen, die sich im Dunkeln fürchten. Nur daß wir einander hörten, war wichtig, wir hätten ebensogut gurren können wie die Tauben.
    Meine eisenbeschlagenen Stiefel hallten auf dem Asphalt durch die Schulstraße, den Schinderturm, die Marktstraße, den Kirchplatz hinunter. Nur ein paar Frauen, verhüllt mit Schals, Tüchern und Mützen, huschten aus Metzger- und Bäckerläden und eilig wieder nach Hause. Über Feldern und Wiesen lag dünngestäubter Schnee, feine glitzernde Flocken, auf der eisharten Erdkruste, die mich trug. Zu ihm trug, ohne zu brechen. Ein Schimmer war um Pappeln und Weiden, nicht wie die Hülle, die ein Rauhreif an Ästen und kleinen Zweigen hinterläßt, vielmehr als hätte sich das Holz in der Kälte selbst gewandelt und angefangen zu glühen. In diesem Glühen schwarzer Schemen stand Sigismund vor der Großvaterweide mit schmalgefrorenem Gesicht. Der Schlamm am Ufer war im Frost geborsten, auf dem Wasser trieben dicke Schollen schlurrend und ächzend stromabwärts. Schiffe konnten längst nicht mehr fahren. Wind strich durch Bäume und Büsche, die froststarren Zweige sirrten zusammen wie die Saiten riesiger Harfen. Meine Wangen, meine Nase, die Stirn: ein einziger eisiger Schmerz. Die Lippen fühllos. An meinem Wollschal, dem von Georg, hingen kleine Eiszapfen. Es konnte gar nichts anderes geschehen. Sigismund zog den Reißverschluß seines Parkas auseinander, und ich floh in den warmen Dunst zwischen Schurwollpullover und Webpelzfutter, das er mir sorgsam über die Schultern zog. Zwei Eisschollen krachten aufeinander. Was anderes hätte ich tun sollen, als mich fester an Sigismund zu pressen, in echter, in gespielter Furcht, in süßer, willkommener Furcht. Nur was sich berührte, erstarb nicht. Sigismunds Atem taute meine Wangen auf, unsere Lippen tauten sich auf, taten sich auf, unseren Zungen Zuflucht in warme
    Mundhöhlen gewährend. Es war ja so kalt, so kalt, und seine lebendige, eifrige Zunge betörend warm. Wir froren uns zusammen. Unsere Lippen hielten den Kopf am Leben, belebten den Körper bis zum Magen. Ab dort war ich bemüht, Berührung zu vermeiden. Ich wußte zuviel. Und zuwenig. Was ich wußte, gefiel mir nicht. Was ich nicht wußte, ängstigte mich. Frostklar spannte sich der Himmel über uns. Mondlicht, das Licht dieser weiten Lampe, machte die Landschaft zum Zimmer, legte sich zum Schlafen nieder, auf den Strom und sein Ufer, die Weiden, die Pappeln, das Schilf, auf uns und auf unseren Schatten, zum Schlafen und Träumen, ein schlafendes, träumendes Licht, das Sigismunds Gesicht in bleichen Glanz tauchte. Doch sah ich kaum einmal in sein Gesicht. Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute in die tausend und tausend Sterne. Ihr Funkeln zog mich in ihre Ewigkeit, ich fühlte ihr Flimmern bis in die Fingerspitzen. Einen einzigen grünlichen Schatten warfen wir auf den harten Sand, bis Sigismund seinen linken Arm von meinem Rücken zog und den Rand seines Fäustlings zurückstreifte. Die Armbanduhr blitzte auf. Da war der Zauber vorbei. Wir lösten uns voneinander.
    Hatte die Kälte uns zusammengetrieben, nahm sie beim Abschied erbarmungslos Rache. Es tat weh. Zuerst die Hände. Sie waren schon eisig gewesen, bevor wir uns trafen. Wir hatten sie nicht aus den Fäustlingen genommen. Dann die erstorbenen Füße. Wie Klötze hingen sie bei den ersten Schritten an den Beinen. Als am Damm unsere Wege sich trennten, ich allein über den Kirchplatz, den Marktplatz, am Rathaus vorbei nach Hause laufen mußte, gefroren mir die Tränen auf den Wangen. An unseren Schatten dachte ich, unseren vereinigten Schatten, und wie er aufgeflogen war zu den Sternen, unser Sternbild, das Sternbild des Schattens. Dachte an das Licht, aus dem wir fortgegangen waren und das jetzt ohne uns träumte und schlief.
    Nur allmählich taute ich im Bett wieder auf.

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