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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Gefährt. Die erste Gruppe, auch ich, bog bei der Papp nach links ab, die anderen fuhren weiter, op de Müll, wo Mehl und Haferflocken hergestellt wurden.
    Am Werktor zeigte jeder flüchtig einen Ausweis, der Pförtner winkte durch, ohne hinzusehen. Ich schlüpfte mit, folgte den anderen, stellte mein Fahrrad unter und wußte nicht weiter. Bei Maternus gab es nur ein Gebäude und einen Eingang, hier gab es deren zwei große und, soweit ich sehen konnte, mindestens drei kleine, dazu eine Fabrikhalle, aus der das Stampfen der Maschinen drang, dumpfer und langsamer, als ich es von Maternus oder Krötz kannte, wo das Klirren der Ketten die Maschinengeräusche übertönte. Ein paar Jungen und Mädchen meines Alters verschwanden in einer mit Efeu bewachsenen Villa. Das Haus gefiel mir. Ich nahm die Zahnklammer, die ich nur trug, wenn ich sicher war, nicht sprechen zu müssen, aus dem Mund, legte sie in die runde rosa Plastikdose und folgte den anderen. Im Vorraum des Hauses schaute von der Treppe eine untersetzte, weniger elegante Ausgabe des Dr. Luchs auf das Häuflein junger Leute herab, dem ich mich zugesellte, ein gutes Dutzend, meist Jungen. Mechthild, die mit mir mittlere Reife gemacht hatte, winkte herüber. Sie hatte eine Stelle im Labor. Wetten, flüsterte ich ihr zu, der sagt gleich, daß wir jetzt ins Leben treten? Jawohl, ins Leben treten würden wir, sagte der Mann, mit einem strafenden Blick in meine Richtung. Jetzt komme alles auf uns an, auf jeden einzelnen: jeder an seinem Platz, alle für einen, einer für alle. Das Werk sei eine große Familie, und was eine Familie sei, das wüßten wir ja.
    Mit drei anderen Mädchen wurde ich in das Gebäude neben der Direktion geschickt.
    Zwei Frauen lehnten am Geländer im ersten Stock. Die jüngere, klein und mollig, kam uns ein paar Schritte entgegen. Von ihren Füßen, die schon am frühen Morgen aus viel zu kleinen Schuhen quollen, konnte ich meinen Blick kaum lösen. Sie hielt Personalbögen mit Lichtbild und Bewerbung in der Hand, schaute abwechselnd auf die Fotos und auf uns, hieß uns alle drei willkommen, winkte die beiden anderen Mädchen zu sich und verschwand mit ihnen hinter einer der Türen. Die zweite Frau war regungslos oben an der Treppe stehengeblieben. Sie wuchs aus dem Boden wie ein Tannenbaum. Uber den massiven Beinen saß ein dunkelgrüner ausgestellter Rock, darüber eine Jacke aus gleicher Farbe, darauf ein dunkler zapfenähnlicher Kopf.
    Guten Tag, sagte ich, als mein Kopf etwa in Bauchhöhe der grünen Pyramide war, nahm die letzten Stufen, und als keine Antwort kam: Ich soll mich hier melden.
    Wachtel, entfuhr es der Frau, als räusperte sie sich, schnellte eine Hand aus dem Ärmel ihrer Jacke und preßte die meine schmerzhaft.
    Angenehm, Palm, brachte ich hervor.
    Das werden wir ja sehen, sagte die Frau.
    Frau Wachtel hatte dunkel gefärbtes strohiges Haar, ein gelbes, großporiges Gesicht und auf der Oberlippe einen schwarzen Flaum, der an den Mundwinkeln in krause Borsten überging. Ihre Augen, kleine, nackte, zudringliche Augen, sprangen mir wie zwei Kröten ins Gesicht. Vor diesen Augen hatte ich sofort Angst. Sie wollten zubeißen! Und was die Augen nicht schafften, würden Mund und Kinn vollenden. Dieses in der Mitte gebuchtete Kinn, breiter als die spitz zulaufende Stirn, gab kein Pardon. Fingerbreit unter der scharfen Nase der Mund, ein Schnitt, Messermund, wie der von Peters Mutter.
    Frau Wachtel hatte ihre Gangart so eingerichtet, daß ich hinter ihr herhasten mußte, wie sehr ich mich auch mühte, Schritt zu halten. Vor der Tür mit der Aufschrift »Sekretariat Herr Dr. A.
    Viehkötter< stoppte sie so abrupt, daß ich ihr in den Rücken stieß. Sie sprang zur Seite und schaute mich mit offenem Abscheu an. Tschuldigung, stotterte ich. Sie schnaufte. Riß die Tür auf. Da sind wir, sagte sie und knallte die Tür mit dem Außenrist zu.
    Der Raum, etwa so groß wie unser Wohnzimmer, hatte nur ein Fenster. Zwei Schreibtische, an den Längsseiten zusammengerückt, füllten ihn fast aus. Eine helle, moderne Schreibmaschine stand auf dem Tisch unterhalb des schmalen Fensters, eine alte, schwarze auf der Platte vor der fensterlosen Wand. Es roch, als hätten hier Vater, Großvater und die Onkel aus Großenfeld, Rüpprich und Strauberg tagelang, ohne zu lüften, Burger Stumpen und Krüllschnitt geraucht.
    Setz dich, sagte Frau Wachtel, nestelte ein Päckchen Zigaretten, rot mit schwarzem Aufdruck, aus der Tasche unterm Schreibtisch, ein

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