Das verborgene Wort
Schreibmaschine wieder aufhörte und Frau Wachtel Kaffeepause brummte, mir fünfzig Pfennig in die Hand drückte und sagte: mit Milch und Zucker.
Verständnislos sah ich sie an.
In der Kantine. Kaffee. Mit Milch und Zucker. Dalli.
Ich ließ mir Zeit. Genoß meine Freiheit. Sklavenfreiheit. Gestohlene Zeit. Es war ein wunderbar milder Maitag. In der Birke, deren einen Ast ich von Frau Wachtels Fenster ein Stück weit sehen konnte, gurrte hoch oben ein Taubenpaar. Der Baum wuchs dicht an der roten Backsteinwand der Fabrikhalle hoch, ein Samen mochte hier vor Jahren Fuß gefaßt haben. Ich lehnte meine Wange an ihren Stamm, ohne an die Augen zu denken, die mich aus den Bürofenstern hier erspähen könnten, rieb meine Wange an der silberschwarzen Borke; Kühe schaben ihre Köpfe an Bäumen, um Fliegen und Bremsen loszuwerden, ich wollte den Tabakgestank, das Parfüm und Schweißgemisch aus dem Sekretariat Dr. Viehkötter abstreifen, mich vom Gift der Blicke aus Frau Wachtels Augen befreien. Du bist nichts wert, sagte das Gift. Dukannst nichts, sagte das Gift. Du gehörst mir, sagte es. Und du entwischst mir nicht.
Meine Zehen krampften sich um das Gedicht, ich preßte mein Gesicht an die Birkenrinde, bis es schmerzte.
Kein Dankeschön. Frau Wachtel stürzte den Kaffee hinunter, warf einen giftigen Blick auf die Uhr, begann in ihrer Tasche zu kramen, färbte ihre Mundränder, tupfte Parfüm in ihr verqualmtes Haar und unter die Achseln und verließ mit Stenoblock und Bleistift das Zimmer. Ich riß das Fenster auf, atmete durch und nahm mir Zeit, um von den Papieren endlich mehr zu lesen als Adressaten oder Absender, mit deren Anfangsbuchstaben ich nun seit sieben Stunden alphabetische Ordnung schaffte. Doch die Briefe waren so eintönig, daß ich bald aufgab.
Kurz vor fünf kam Frau Wachtel zurück. Sie sah mitgenommen und befriedigt zugleich aus, wie ein frisch gestriegeltes Pferd nach einem Galopp. Feierabend. Sie zündete sich eine Zigarette an. Ich nahm meinen Matchbeutel und wollte gehen.
Hiergeblieben, kommandierte mich Frau Wachtel wieder, und wir warteten, die Taschen unterm Arm, hinter unseren Tischen, bis der große Zeiger über der Tür auf zwölf rückte, worauf Frau Wachtel die eben angerauchte Zigarette in den Aschenbecher warf, noch einmal Feierabend rief und den Gang hinunterschoß.
Na, wie war der erste Tag? fragte mich die Dicke freundlich, die mir mit den beiden anderen Lehrlingen entgegenkam. Ihre Füße waren jetzt so aufgeschwemmt, daß von den Rändern der Schuhe fast nichts mehr zu sehen war. Wie wohl mir der Klang ihrer Stimme tat!
Isch bin Elli Zipf, und das sind Erika Haber und Karin Büttefür aus Strauberg. Ihr werdet eusch ja noch kennenlernen. Wir haben hier eine Schulung für unsere Lehrlinge. Jeden Dienstag. Aber das hat Ihnen Frau Wachtel sischer schon gesagt. Nichts hatte sie mir gesagt. Doch als stünde ich noch unter ihrem Bann, murmelte ich jaja und machte mich davon.
Ich verließ das Fabrikgelände mit dem Gefühl, versagt zu haben. Ein Gefühl, das stärker wurde mit jedem Schritt und jedem Blick auf die Menschen, die guter Laune nach Hause in den Feierabend strebten. Sie wußten, warum sie hier acht Stunden des Tages verbrachten. Von meinen monatlichen fünfundsiebzig
Mark hatte ich zwanzig der Mutter versprochen. Sehr überlegen hatte ich mich gefühlt, dem Vater zugesellt, dem Teil der Menschheit, der morgens das Haus verläßt und abends Geld hineinbringt, Haushaltsgeld, Kostgeld. Wer Geld hatte, konnte mit den Menschen in der Wirklichkeit umspringen wie ein Dichter mit den Seinen auf dem Papier. Geld verlieh ein Gefühl von Macht, wie Wörter ein Gefühl von Macht verliehen. Mit Wörtern war alles möglich. Mit Geld, schien mir, auch. Für die Mutter war ich nicht mehr dat dolle Döppe. Ich war eine Respektsperson. Nicht Kinderschwester wolle ich werden, sondern Aus-lands-kor-res-pon-den-tin. Jedesmal zelebrierte die Mutter das Wort und schaute ihr Gegenüber dabei an, als habe sie ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert. Ich freute mich an ihrer Freude, der Grund ihrer Freude freute mich nicht.
Ich trat in die Pedale und dachte an Tonio Kröger. So verwandt hatte ich mich ihm gefühlt, sein blonder Hans, meine blonde Doris. Wie leicht, dachte ich, während ich vom zweiten in den dritten Gang schaltete und von der Landstraße in einen Feldweg bog, der mich an den Rhein führte, dorthin, wo ich noch nie gewesen war, wie leicht hatte es dieser Tonio Kröger, der tun und
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