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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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kalt. Geld war Mammon. Mammon, schnöde und Babylon. Es sei denn, man schickte es dem Ohm für seine Mission in Afrika. Aber da hatte der Vater nur bissig geknurrt.
    >Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles<, hatte ich gerade gelesen. Ich wollte es allen zeigen. Konnte es nicht das große
    Latinum sein, dann das große Geld. Als Industriekaufmanns- gehilfenlehrling op dr Papp, der Pappenfabrik. Als Auslandskorrespondentin in der weiten Welt. Der große Brockhaus auf Raten.
    Zu Hause nannte man mich vernünftig. Der Vater hob Geld vom Sparbuch ab, vom Notgroschen aus dem Lottogewinn. Ich durfte mir ein Fahrrad aussuchen. Das brauche ich für den Weg zur Pappenfabrik, sagte er der Mutter. Es war grün und hatte eine Dreigangschaltung. Als ich das Rad nach Hause schob, klingelte es über dem Pflaster wie die Silberlinge in Judas' Verräterhand. >Ach, wir Armen!<
    Dann stand das Fahrrad im Stall. Hinter dem des Vaters und des Bruders. Ich durfte noch nicht mit ihm fahren. Nicht zur Schule und nicht zum Vergnügen. Eingeweiht werden sollte es erst auf dem Weg op de Papp.
    Vor dem ersten Wiedersehen mit Sigismund nahm ich die Klammern kurz hinterm Schilf heraus und setzte sie in eine runde Plastikschale, wie für Gebisse. Wochen waren vergangen, seitdem uns die Kälte zu einem Kuß zusammengefroren hatte. Es war nicht kalt und nicht warm an diesem Abend Anfang April, nicht mehr hell und noch nicht dunkel, als ich Sigismund zum zweiten Mal küßte. Und so war auch der Kuß. Wir küßten uns ohne Not. Sigismund schmeckte kränklich, nach Menthol und Nasentropfen, seine Lippen waren kalt und ungeschickt. Verbiegungen seines Unterleibs wich ich aus. Eine Stunde später erschauerte ich im Holzschuppen unter den Küssen Heinrich Fausts. Sigismund würde nicht versetzt werden. Ein Schuljunge. Ich kurz vor dem Tritt ins Leben.
    Zur Abschlußfeier der mittleren Reife brachte die Tante einen Ballen dunkelgrünen Samt. Den hätte sie mir schon zur Firmung schenken wollen, da sei ich aber noch su in de Bunne gewesen; jetzt, Jott sei Dank zur Vernunft gekommen, wisse ich wieder, wo ich hinjehöre. Sie habe auch schon et Flimms Hilde mit dä Nähmaschin bestellt, für ein rischtijes Jewand. Jewand, sagte die Tante und warf die Arme in die Höhe, gebauschte Kaskaden, Puffärmel, Rüschen, Fülle und Fall. Hilde nähte das Kleid nachmeinen Vorstellungen, so schlicht, daß die Tante es nur murrend bezahlte, sich aber erheiterte, als sie die Hälfte des Stoffes wieder mit nach Hause nehmen konnte. Hanni brachte mir eine goldene Brosche, nur geliehen, für meinen Auftritt, und Maria gab mir ihre Ohrringe, Aquamarine, die durfte ich behalten.
    Die Mutter, der Vater und die Tante fuhren zur Abschlußfeier mit. Auf unserem Weg zur Straßenbahn gratulierten die Nachbarn aus Fenster und Türen. Auch die Großmutter hatte mir am Morgen Glück gewünscht und ein Päckchen in die Hand gedrückt, ein uraltes Gebetbuch, die Ecken silberbeschlagen und mit einem Kettchen verschlossen. Ihre Mutter, so die Großmutter, habe das Buch schon von ihrer Großmutter bekommen. Dann hatte sie ihren Daumen geleckt und mir ein Kreuz auf die Stirn gedrückt.
    Die Kraft von fünf Generationen. Ich hatte das Buch in die Tasche gesteckt zu meiner Abschlußrede. Der Schulchor sang: >Mich brennt's in meinen Reiseschuhen / fort mit der Zeit zu schreiten / was sollen wir agieren nun / vor so viel klugen Leuten^ Sie sangen alle Strophen. Dann spielten die Blockflöten Hindemith. Nacheinander priesen Fräulein Abendgold, der Direktor, der Elternsprecher die Vorteile des Erwachsenendaseins und bejauchzten die Tatsache, daß wir jetzt ins Leben träten. Wie in einen Hundehaufen, flüsterte ich Doris zu. Oder wie in eine blöde Fresse.
    Meine Abschlußrede war schwunglos und steif. Die in der ersten Reihe wurden einer nach dem andern immer größer, allen voran Fräulein Abendgold, die nicht gesagt hatte: Steh auf. Lehrer und Schüler, Mütter und Väter wuchsen auf mich zu, drohten mich zu verschlingen. Dabei wollte ich es ihnen allen doch zeigen. Ohne das große Latinum.
    Und plötzlich drängten sich mir Wörter und Sätze auf die Zunge, die mit meinem Papier nichts zu tun hatten. Ich mußte sie nur noch hinauslassen. Faselte nichts mehr von Klassenfahrten, Schülerstreichen und Dankbarkeit. Von einem kurzgewachsenen, schmächtigen Jungen erzählte ich, nicht größer als ein Meter zweiundvierzig sei er gewesen, aber mit einem mächtigen, schönen Kopf. Von seinem

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