Das verborgene Wort
Eingewecktes.
Das A sah aus wie eine Zipfelmütz, Zipfelmütz auf Wichtelmännchens Kopf, Wichtelmännchen bei Schneewittchen, Rumpelstilzchen und Zwerg Nase, die Heinzelmännchen von Köln. B stand mit seinem blubbernden Bauch vor der Mühle und verschacherte seine schöne Tochter an den König, Stroh zu Gold spinnen könne sie, log das dicke B. Im C hing der Sichelmond am Himmel, Sterntaler regneten dem armen Mädchen ins Hemdlein. Das D roch nach Gift, giftige Apfelhälfte im Halse von Schneewittchen. Ich hatte große Mühe, die Gedanken bei den Zeichen zu halten. Ließ ich ihnen freien Lauf, nahmen sie schnurstracks den Weg in die Märchenwelt.
Jeden Buchstaben gab es in groß und klein wie Eltern und Kinder, doch die kleinen sahen den großen beileibe nicht immer ähnlich. A und a. B und b. R und r. E und e. G und g. H und h. Die Kurve vom d dem D entgegengesetzt. Einen Grund dafür gab es nicht. Sowenig wie für Engel und Teufel. Alphabet und Gebet waren Glaubenssache. Das Alphabet dem Gebet haushoch überlegen. Ohne Alphabet kein Gebet. Nicht einmal GOTT.
Tröstlich, daß sich kleine und große Buchstaben gleich anhörten, ein schrumpeliges e nicht schwächlicher klang als ein dreigestrichenes E; ein h nicht leiser gehaucht wurde als sein großer stabiler Verwandter; ein P nicht lauter knallte als ein p, auch wenn das Püppchen sein Bein mal unter die Linie streckte, mal auf ihr balancierte.
Sobald wir die Buchstaben kannten, kam es darauf an, sie so, wie sie im Lesebuch standen, in Gruppen, also in einer Reihe, richtig auszusprechen. Das war Lesen. Lesen vom Papier. Zum Lesen vom Buchstein brauchte man keine Buchstaben.Was immer dort geschrieben stand, stieg mir ohne den Umweg über die
Buchstaben vor Augen. Ich brauchte nur zu sagen, was ich sah. Daß ich dazu Wörter brauchte, daß es Wörter waren, die ich sagte, war mir nicht klar. Was ich sah, konnte ich sagen. Zwischen dem, was ich sah, und dem, was ich sagte, gab es keinen Unterschied. Das Gesehene war das Gesagte. Ich sagte nichts, was ich nicht sah. Oft konnte ich mit dem Sagen kaum nachkommen, so überreichlich drängten die Bilder aus dem Stein.
Lesen vom Papier war anders.
Hase, schrieb Mohren an die Tafel. Ha:so, hörte ich Rainers Stimme. Ha:sa, wiederholte Mohren. Schrieb >Kuh<, und >ku:< sagte der dicke Kurt. >Hut<, schrieb Mohren, >hu:t< sagte ich. Aber was ich da sagte, sah ich nicht. Daß dieser Laut >hu:t<, daß diese drei Buchstaben >Hut< etwas mit der Kopfbedeckung zu tun hatten, kam mir nicht in den Sinn. Ich blieb im Laut stecken, im Wort-Laut, im Wort-Körper, begnügte mich damit, den Laut, den mir diese unscheinbaren schwarzen Zeichen oberhalb meiner Zeigefingerkuppe abforderten, aufs genaueste hervorzubringen. Ergötzte mich an meiner Fähigkeit, die Zeichen in Laute zu überführen, Zeichen und Klang zusammenzubringen, das, was die Augen dem Gehirn signalisierten, mit Zunge, Zähnen, Zäpfchen, den Lippen zu formen. Lesen war für mich Sprechen, Aussprechen. Den Laut lesen. Laut lesen.
Es war ein herrliches Spiel. Die Spielregeln einfach. Ein A blieb ein A, ein U ein U, E E, I I. Nicht umsonst hieß diese Handvoll Schnörkel Selbstlaute; sie standen für sich selbst und beherrschten mit ihrem Klang alle übrigen Zeichen, die Mitlaute. Diese waren zwar in der Überzahl, hatten aber ohne Selbstlaute nur ein sonderbares Leben als Krächzen, Hauchen, Räuspern, Summen. Im Alphabet bedienten sie sich eines e als Krücke, um sich hörbar zu machen, ließen dieses aber sofort fahren, sobald sie ein eigenständiger Selbstlaut herausforderte. Sie ergaben sich immer, Mitlaute eben, kein Rückgrat. Andrerseits kamen die Selbstlaute ohne die Mitlaute auch nicht sehr weit. Ein langes A war ein Staunen, ein kurzes beinah ein Nein. O freute und wunderte sich. I war Ekel und Abscheu. Mit langen Us kam das Gruseln.
Ein Allerweltsbuchstabe war das E, ein Hansdampf in allen Gassen, Mädchen für alles. Ohne E ging gar nichts. E war derunumschränkte Herrscher unter den Selbstlauten, vielleicht sogar im Alphabet. Mit ungeheurer Macht ausgestattet, machte es aus einem Tisch Tische von zwei bis unendlich; aus einem A ein Ä, O zu Ö, U zu Ü.
Es gefiel mir, daß die Selbstlaute nicht ohne die Mitlaute, die Mitlaute nicht ohne die Selbstlaute auskamen, daß jeder auf jeden angewiesen war, wenn er etwas darstellen wollte. Fehlte ein Teil, brach das Wort zusammen. Stahl sich das u aus der Kuh, blieb nichts als ein Knacklaut hinten im Gaumen,
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