Das verborgene Wort
den Griffelkasten, den der Großvater aus Brettchen geleimt und mit Schiffen, Fröschen und Wichtelmännchen bemalt hatte, und ein gehäkeltes Läppchen an einer gedrehten Schnur hüpfte mit.
Wer im Dorf nicht dazugehörte, war ein Müpp. Es gab eingeborene, dreckige Müppen, evangelische Müppen und die Flüchtlingsmüppen aus der kalten Heimat. Die wenigen evangelischen Volksschüler lernten mit den katholischen unter einem Dach, wenn auch in einem viel kleineren Teil des Gebäudes. Auf dem Schulhof aber war ihnen ebensoviel Platz eingeräumt wie denkatholischen, so daß es bei uns im Gedränge immer drunter und drüber ging und der Aufsichtslehrer in jeder Pause einiges zu tun hatte, während der evangelische Lehrer den evangelischen Teil mühelos überblicken konnte, was die paar Müppen zu einem weitaus gediegeneren Verhalten anhielt als ihre Mitschüler auf der anderen Seite. Niemals aber wäre es jemandem in den Sinn gekommen, die unsichtbare Glaubenslinie auf dem Schulhof zu überschreiten. Nur auf der katholischen Seite konnte man in den Pausen aus vielen Wasserhähnen trinken, sein Fahrrad in überdachten Ständern abstellen, und Jungen und Mädchen hatten getrennte Klos, was einen spontanen Besuch dieser Örtlichkeiten ermöglichte, während die Müppen auf ihrer Seite schub- und geschlechtsweise hinter Verschläge kommandiert wurden. Immer fanden sich dabei ein paar katholische Schreihälse: Evanjelische Müppe drieße op de Schüppe [18] , brüllten sie und schütteten sich aus vor Lachen. Selbst die Gulaschkanone der Amerikaner, die samstags in der großen Pause eine dicke Suppe ausschenkte, fuhr zuerst auf die katholische Seite und wechselte dann mit dem lauwarmen Rest zu den Evangelischen. Allerdings kriegten die mitunter zweimal, bis der Bottich leer war.
Auf dem Schulhof mußten wir Zweierreihen bilden wie im Kindergarten, Jungen und Mädchen getrennt, und dann die breite Treppe hochmarschieren, Jungen zuerst, der Lehrer vorneweg.
Mohren heiße er und daß wir uns die Plätze selbst aussuchen dürften, Mädchen links, Jungen rechts, wie in der Kirche. Ich war gleich auf den Platz direkt vorm Pult gestürzt, doch Gedränge hatte es nur in den hinteren Bänken gegeben. Einzig die Langsamen, Zögerlichen, Nachgiebigen mußten schließlich nach vorn.
Alles an Lehrer Mohren war rund, Bauch, Kopf, Gesicht, rund und weich, bis auf die Nase, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel spitz und lang aus all dem Runden und Weichen hervorzuckte, so wie sein Jähzorn, der jederzeit unverhofft aus seinem gütigen Temperament herausbrechen konnte.
Unsere Namen mußten wir ihm sagen, wo wir wohnten und was unsere Väter taten.
Dä jeht op Arbeed bei Krötz und Ko., sagte ich.
Ungelernter Arbeiter, murmelte Mohren. Ungelernt? Wieso ungelernt? Der Vater konnte Bäume pfropfen und Schuhe besohlen, Fahrräder flicken und Schuppen bauen, die Nachbarn holten sich Rat bei ihm, wenn die Rosen Rost hatten oder Mehltau, und die Verwandtschaft bewunderte sein Gedächtnis. Der Vater war ein Arbeiter. Aber ungelernt? Der Lehrer hatte es in ein dickes Heft geschrieben, Klassenbuch nannte er das, neben Namen und Adresse, also mußte es stimmen. Der Vater war ungelernt. Ich würde lernen. Durch das Fenster schien kräftige Aprilsonne, auf ihren Strahlen tanzte der Kreidestaub. Lernen. Alles.
Wen hat ehr dann en dä Scholl? empfing mich die Mutter schon an der Tür.
Dä Mohren, sagte ich.
Do mußte oppasse, dat es ene jähzornije Minsch, sagte die Mutter. Seit dä die Malaria hätt. Sing Anfäll.
Wat es dat, Malaria, fragte ich. Das Wort gefiel mir.
En Krankheet, sagte die Mutter. Usm Kreesch. Aus dem Krieg.
Na Jott sei Dank, nit dä Zömperling, sagte die Tante, die immer zufällig vorbeikam, wenn es Reibekuchen gab.
Dä Mohren setz dä Kenger ken Rosine en dä Kopp, ergänzte die Großmutter. Dä weeß, wo mer hinjehürt. Nit wi dä Zömper- ling.
Dä Zömperling, dä es doch Kummeniß, Kommunist, sagte die Tante kauend und sah sich witternd um.
Wat es dat, kumme Mist? fragte ich. Ein freches Wort, ein Schimpfwort wie Drecksmist.
Kum me niß hesch dat, wiederholte die Tante. Doför bes de noch ze kleen.
Kummenisse sin Russe, beschied mich die Großmutter. Un Schinese. Die jelbe Jefahr. Un die rote. Düvel. Feinde Jottes. Die schaffe de Kersche äff und sperre de Kattolische en.
Ich wußte, wie Zömperling aussah: groß, dünn und blond. Sonntags ging er ins Hochamt. Eine Gefahr?
Treck desch öm, sagte die Mutter.
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