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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Kurz nachdem ich Fritzchen ins Herz geschlossen hatte, war der Ohm wieder einmal da und hatte die neueste Ausgabe der Missionszeitschrift seines Ordens, den >Hünfelder Boten<, mitgebracht.
    Sieh mal, Hildegard, sagte er und ließ seinen spitzen weißen Zeigefinger über zwei Fotos kreisen, siehst du den Unterschied?
    Dat hie, ich stupste mit dem Finger auf den keck vorgewölbten Bauch eines Negermädchens, das, die Arme in die Hüften gestemmt, in die Kamera lachte, dat hie jefällt mer besser als dat. Auf dem zweiten preßte das Kind die vollen Lippen zusammen und schielte trübsinnig auf den Leichnam am Kreuz. Es trug eine dicke Jacke, zugeknöpft bis zum Hals, und sah aus, als müsse es sich kratzen.
    Feierlich richtete der Ohm sich auf und legte die Hände neben den Teller. Kind, sagte er und hob den Blick zur Küchenlampe, es gibt nur einen Weg zur Erlösung.
    Jo, sagte ich eifrig. Dat Weet [17] he muß de Jack ustrecke, däm es et doch vell ze wärm!
    Hal ding Muul, fauchte die Großmutter und riß das Blatt an sich. Langsam bewegte der Ohm den Kopf von rechts nach links und zurück, kehrte die Handflächen neben dem Teller nach oben, Jesus beim Abendmahl. Kind, sagte er schmerzvoll und senkte den Blick von der Küchenlampe auf mich: Jesus hat noch mehr gelitten. Seine teigige Rechte griff nach der Maggiflasche, hob sie in weitem Bogen zur Brust und senkte sie in Richtung Tisch, die Öffnung gemessen auf und nieder bewegend, daß die braunen Tropfen in die Suppe platschten, wo sie beim Aufprall winzige Strudel bildeten. Demütig glauben, sagte er, während er die Suppe weihte, demütig glauben. Vor der gelben und der roten Gefahr warnte er. Wenn die Frauen in Männerkleidern laufen, ist das Ende der Welt nahe, verkündete er, und sein gepflegtes Doppelkinn bebte über dem steifen Kragen, wenn er, mit von Bissen zu Bissen sich steigerndem Donnermut, in die Zielgerade seiner Verdammnis brauste.
    Nach Selbstgebackenem mit Sahne und echtem Bohnenkaffee gab er zum Abschied zuerst allen die Hand und dann den Segen. Den rechten Arm bis zum Ellenbogen fest an den Oberkörper gepreßt, streckte er nur den Unterarm vor und wedelte über den gekrümmten Rücken, den gebeugten Hälsen das Kreuzzeichen. Keine Bewegung zuviel. Demut, mein Kind, Demut, murmelte er über meinem Kopf. Demütig glauben. Ich richtete mich auf. Ich wollte lernen. Wissen.
    Armen Kindern drückte der Fotograf eine mit Papier ausgestopfte Schultüte in die Hand. Ein Foto machte er von jedem Kind, ob es ihm nun abgekauft wurde oder nicht. Meine Schultüte war klein, aber echt. Keine eigene Schultüte zu haben wäre eine Blamasch gewesen. Wat sulle de Lück von us denke, hatte die Mutter gesagt und extra Heimarbeit übernommen. Ein Lastwagen der Fabrik, wo der Vater arbeitete, fuhr wöchentlich ein-mal durchs Dorf, lud mit Ketten gefüllte Weidenkörbe und leere Holzkisten bei den Heimarbeitern - Frauen und Invaliden - ab und nahm die leeren Körbe und vollen Kisten, in denen die zerteilten, mit Karabinerhaken, Ösen, Schlüsselringen versehenen Ketten nun sauber aufgereiht lagen, wieder mit. In der Vorweihnachtszeit verging kein Abend, ohne daß die Mutter zur Zange griff mit ihren kleinen Händen, die ihr dann nach wenigen Tagen aufgequollen wie rote Gummitatzen an den Gelenken hingen. Im Sommer verschwanden die Kettenkörbe aus der Küche und mit ihnen der säuerlich-ranzige Geruch von Metall, Fett und nassem Holz, bis sie im Frühherbst wiederkamen wie Zugvögel gegen die Zeit.
    Dennoch hätte sie das Foto beinah nicht gekauft. Ich hatte vergessen, meine Zöpfe, die mir bis in die Kniekehlen hingen, nach vorne zu legen. Dat schöne Hoor su ze verstoppe, schimpfte sie. Un och noch frisch jewäsche! stimmte die Großmutter ein. Nur alle paar Monate, wenn das Jucken unerträglich geworden war, wurden ein paar Töpfe heißes Wasser gemacht, das Haar eingeseift und mit immer neuen Güssen aus der Milchkanne gespült. Das Auskämmen besorgte die Großmutter unter Gebeten mit einem dichtgezähnten Kamm, der für ihre schütteren Strähnen ausreichte. Schrie ich, unterbrach sie ihre >Gegrüßet seist du, Maria<: Unser Herrjott hat noch mehr jelitten. Denk an die Dornenkron.
    Aus allen Richtungen kamen Kinder zur Schule. Die Erstkläßler meist mit ihren Müttern; ich hatte durchgesetzt, allein zu gehen. Mein Tornister, von Cousine Hanni, war aus braunem Leder und hing an zwei Riemen über der Schulter. Wenn ich hüpfte, klapperte die Schiefertafel gegen

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