Das verborgene Wort
die hinterste Reihe, wo er im Häkchen des r verschwindet.
Den Dingwörtern folgten die Tuwörter, diesen die Eigenschaftswörter. Dann kamen die Sätze. Tuwörter, besser Tätigkeitswörter, so Mohren, waren die eigentlichen Herren im Satz. Ein einziges Tuwort konnte schon für sich allein als Satz auftreten. Geh! oder Lauf! Allerdings mit einem Ausrufungszeichen als Stütze. Die Tätigkeitswörter hatten im Satz das Sagen. Beherrschten nicht nur die übrigen Wörter, sondern auch die Zeit. Von ihnen, das lernte ich in den nächsten Monaten, hing es ab, ob ich etwas Gutes esse, aß, essen werde oder nur essen würde. Und nicht nur ich, alle anderen auch. Jedes Ding der Welt konnten die Tätigkeitswörter in die Vergangenheit versenken, in die Gegenwart hereinholen, in die Zukunft spiegeln oder als bloßes Hirngespinst erscheinen lassen. Nichts, was ihrem Zugriff entging. Ich bewunderte die Schliche, Tricks, Kniffe der Tätigkeitswörter. Sie brauchten keinen großen Aufwand, um immer wieder andersdazustehen. Wurde aus einem e ein ü oder ein u, konnte man krank werden, krank gewesen sein oder mußte nur möglicherweise ins Bett. Wie erfahrene Handwerker im Haus wirtschafteten die Tätigkeitswörter im Satz, geschickt und mit sparsamsten Mitteln genau die gewünschte Wirkung erzielend. Anfangs faszinierten sie mich; aber dann wurde ich ihrer müde, so, wie man des Zaubertricks, einmal durchschaut, überdrüssig wird. Auch waren sie mir zu mächtig, alles andere versklavend.
Ich blieb den Hauptwörtern treu. Besonders denen, die Dinge bedeuteten, einfache Dinge, Tisch, Kuh, Haus. Schwierigkeiten machten mir die nichtdinglichen Dingwörter, die Begriffe. Ich traute ihnen nicht, glaubte ihnen erst, wenn ich sie sah. >Herr- lichkeit< war die Monstranz, die der Pastor aus dem Tabernakel zog und über den Kopf hob. Oder das Brautkleid der Cousine. >Strafe< war das blaue Stöckchen hinter der Uhr und >Hilfe< der Großvater, wenn er mit uns an den Rhein ging. >Hilfe< und >Freude< war das, aber nur, solange es dauerte. Dann war die Freude vorbei. Ich fand mich nur zögernd mit dieser Art von Wörtern ab, überwand nur langsam das Mißtrauen gegen ihren Gebrauch und ging ihnen am liebsten aus dem Weg. Mir nichts, dir nichts ließen sie sich von den Ereignissen ablösen, die mit ihnen zwar nicht verschwanden, aber doch verblichen, verwelkten, während ein Baum, ein Buch, eine Vase etwas Handfestes, nicht aus der Welt zu Schaffendes war, ein wirkliches Ding-Wort eben.
Dingwörter begannen mit einem großen Buchstaben. Das gefiel mir. Ich duldete die kleinen Zeichen, hätte aber am liebsten alles GROSS geschrieben. Stundenlang saß ich, meine Tafel auf den Knien, beim Hühnerstall und kratzte mit meinem Griffel immer neue Wörter in den Schiefer, schrieb mal alles groß, mal alles klein und fühlte mich göttlich, wenn ich mit ein paar Strichen des spuckefeuchten Schwämmchens alles wieder wegwischen konnte, auslöschen, als hätte es nie ein Haus, haus, HAUS gegeben, und ebenso großartig fühlte ich mich, wenn ich immer wieder aufs neue begann, die Tafel zu füllen wie Gott Himmel und Erde in den Schöpfungstagen. Sprache war allmächtig. Allmächtiger als der liebe Gott. Was war die wunderbare Brotvermehrung mit fünftausend Broten aus einem gegen die unend-liehe Wortvermehrung aus sechsundzwanzig Buchstaben? Jedes Buch ein neues Brot, jedes Wort ein Stück davon.
Sprache war gerecht. Gerechter als der liebe Gott. Es gab nicht gut und böse. Nur richtig und falsch. Man wußte, wo man dran war. Keine als Gnade getarnte Willkür. Kein: >Die Letzten werden die Ersten sein<. Die Letzten mit zehn Fehlern im Diktat blieben die Letzten, und basta. Gewiß, es gab Ausnahmen. Ich verachtete sie. Aber auch die konnte man lernen. Grausam, Grauen, Greueltat. Willkür dieser Art war Gesetz. Gesetz für alle. Es gab keine Heiligen und keine Sünder. Keinen Teufel. Dafür sorgte die Sprachlehre. Sie machte der Schrift Vorschriften, schrieb das rechte Schreiben vor, wie die zehn Gebote das rechte Leben. Auf die Sprachlehre war Verlaß. Weit mehr als auf die Zehn Gebote. Vater und Mutter zu ehren, einen Vater mit dem Stöckchen hinter der Uhr, eine Mutter, für die ich ein Düvelsbrode war, schien mir ziemlich fragwürdig, aber Fater und Muter zu ären war falsch, und jeder konnte wissen, warum, beide verbessern und anschließend ehren.
Als ich entdeckte, daß ein Wort zwei Bedeutungen haben kann, war das ein Schock. Es regte mich auf wie
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