Das verborgene Wort
Ich zog den dunkelblauen Faltenrock aus und den hellblauen Pullover. Er war wie alle un-sere Pullover im Perlmuster gestrickt, das aufgeribbelte Wolle aussehen ließ wie neu. In meinem alten Kittel durfte ich nun auch an die Reibekuchen.
Die Tante schenkte mir zum ersten Schultag einen Bleistift mit Radiergummi; die Großmutter ein Bildchen der heiligen Hildegard, zuständig für Gelehrsamkeit. Ich schenkte dem Bruder einen Kringel aus meiner Schultüte. Abends zeigte mir der Vater das neue Stöckchen hinter der Uhr. Es war mit mir gewachsen. Mindestens doppelt so dick wie die Schilfrohrstöckchen aus der Kindergartenzeit, die alle paar Monate auf den Sonntagsspaziergängen mit den Eltern erneuert worden waren. Das neue Stöckchen war aus Holz und himmelblau bemalt.
Es et nit schön? lachte der Vater und balancierte das Stöckchen senkrecht auf der Handfläche. Doför bes de jitz alt jenuch. Er hieb ein paarmal in die Luft. Es sauste. Paß op, dat de Färv nit affjeht. Die Farbe nicht abgeht.
Kurz vorm Schlafengehen nahm mich der Großvater beiseite und drückte mir etwas in die Hand. Dabei sah er mich an wie seine älteste Tochter, die Tante aus Elberfeld, wenn die wieder wegfuhr.
Es war der schönste Buchstein. Blendend weiß mit roten Linien, Schlingen und Schleifen, Kringeln und Krähenfüßen auf der einen, goldenen auf der anderen Seite. Da drauf, sagte der Großvater, stehen wunderbare Jeschischten. Immer neue. Solang de lävs. Solange du lebst.
Der nächste Schulmorgen begann mit einem Vater unser<. Im Stehen. Alle Kinder aus dem Kindergarten beteten lauthals mit, und der Lehrer machte hinter unsere Namen mit schwarzer Tinte einen Punkt. Schwarze Punkte, erklärte er, waren gute Punkte. Rote schlechte. Auch der liebe Gott, wußte ich von der Großmutter, führte Buch über gute und schlechte Taten. Als ich sie gefragt hatte, wieso er sich das aufschreiben müsse, wo er doch allwissend sei, hatte sie den Spüllappen nach mir geworfen und mich Düvelsbrode genannt. Über meinen himmlischen Punktestand war ich ständig im ungewissen. Ein Klassenbuch war eine klare Sache.
Scharrend drückten wir uns in die Bänke.
Wer von euch kann denn schon, Lehrer Mohren zog die Au-genbrauen hoch, zwei Rundungen mehr in seinem runden Gesicht - wer von euch kann denn schon bis zehn zählen?
Kurtchen Küppers ratterte bis zwanzig und über dreißig hinaus, bis Mohren abwinkte. Kurtchen Küppers bekam einen zweiten schwarzen Punkt.
Und wer kann - wieder ließ der Lehrer seine runden Augen über unsere Köpfe rollen -, und wer von euch kann schon lesen? Niemand?
Da hob ich den Finger. Den zweiten schwarzen Punkt vor Augen.
Steh auf! sagte Mohren.
Ich zog meinen neuen Buchstein aus dem Tornister und las in einem Zuge die Geschichte von der grünen Vase vor. Jo, rief Kurtchen Küppers einmal aufgeregt dazwischen, dat stimmt. Die Jeschischte von der Frau un dem Huhn hat die Schwester jenau so verzählt!
Denn wem dat Häz schwer es, dem is alles schwer. Un wem et leischt is, dem is alles leischt, schloß ich und sah den Lehrer erwartungsvoll an.
So, sagte Mohren. Das hast du also gelesen. Das steht alles auf diesem Stein da?
Ja, sagte ich, dat is ene Boochsteen.
Ein Buchstein?
Ja, sagte ich. In der Klasse wurde es unruhig.
Ruhe, donnerte Mohren. Setzen. Einen schwarzen Punkt gab es nicht.
Nach der Stunde hielt mich der Lehrer zurück, betrachtete mich und den Stein, kopfschüttelnd, schnaufend. Viele Buchsteine habe ich noch zu Hause, am Rhein könne man sie finden, mein Schutzengel habe sie beschrieben, und diesen besonders schönen habe mir gestern der Großvater geschenkt.
Lehrer Mohren räusperte sich. Nun, sagte er, es gibt viele Arten zu lesen. Steine werden anders gelesen als das, was auf dem Papier steht. In der Schule, mein Kind, wird nur gelesen, was auf dem Papier steht. Mit dem Großvater kannst du weiter von deinen Buchsteinen lesen. Mohren gab mir den Stein des Großvaters zurück und strich mir über den Kopf. Auch dies mußte wohl an dem herrlichen Stein liegen.
Jedes, aber auch jedes Wort der Welt könne man lesen, lockte uns der Lehrer, wenn man nur diese sechsundzwanzig Buchstaben, Alphabet genannt, kenne. Sogar neue Wörter könne man erfinden. Aber damit hätten wir noch viel Zeit. Zuerst einmal sollten wir die Buchstaben lernen. A, sagte der Lehrer und malte etwas an die Tafel: A, wiederholte er. Buchstaben kamen aus den Tönen. Wie Kompott aus frischem Obst, haltbar gemacht wie
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