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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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tretend. In Sigismunds Zimmer brannte Licht. Die Vorhänge waren zugezogen, die Rolläden halb heruntergelassen, >und hinter tausend Stäben keine Welt<.
    Nachts saß Dr. Viehkötter hinter meiner Zahnklammer, Frau Wachtel versuchte, ihn zu füttern, ich zermalmte beide mit ein paar gewaltigen Bewegungen meiner Kiefer. Auf dem Brett der Regentonne flog ich über Dondorf, Großenfeld, Hölldorf und Pleen und spuckte das Viehkötter-Wachtel-Gemisch wieder von mir, ein stinkender Sprühregen über Gerechte und Ungerechte, Ungerächte und Gerächte.
    Nun, wie hatten wir es gestern mit der Stenographie? Frau Wachtel sah frisch und unternehmungslustig aus. Zwei rote Plastikkirschen hingen an ihren Ohren.
    Naja, sagte ich.
    Na, dann wollen wir mal sehen, sagte sie, streckte mir den Arm entgegen und zappelte mit den Fingern. Hergeben.
    Ich holte den Block aus der Schublade. Ich fühlte nach dem Gedicht unter meinem Fuß. >Die linden Lüfte sind erwacht<, >die linden Lüfte sind erwacht, sie säuseln und weben Tag und Nachts >Tag und Nacht<, ich versuchte, mich aufzuspalten in Körper und Kopf, >nun armes Herze sei nicht bangs Kopfinnen und Kopf- außen, wie damals, als der Vater mich hatte zwingen wollen, >ich bin klein, mein Herz ist rein<, die abscheuliche Heidenfratze anzusehen, >mach de Ooje op<, >mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen<. Diesmal war kein Großvater da, der den Stenoblock einfach in die Westentasche hätte stecken können wie damals die Glasscheibe.
    Dreck! Frau Wachtel paffte verächtlich, stieß die Zigarette in den überquellenden Aschenbecher, packte den Block mit spitzen Fingern und ließ ihn von hoch oben auf meinen Schreibtisch flattern. Dreck, wiederholte sie. Was hat man in den sechs Jahren auf der Mittelschule - sie betonte jede Silbe - wohl gelernt?
    Realschule, sagte ich.
    Auch noch frech werden, fauchte sie, eine neue Zigarette anzündend. Das ist ein Fall für Dr. Viehkötter. Das Personalbüro. Wie konnte man so etwas bloß einstellen.
    Kopfinnen, Kopfaußen, die >linden Lüfte< standen still, nichts wendete sich, das >arme Herze< war bang und schlug mir bis zum Halse. Ich mußte dringend >Für Damen<.
    In Frau Wachtels Augen trat ein lauernder Zug. Die Maus war ihr sicher. Nun begann das Spiel.
    Ich hätte da eine Idee. Frau Wachtel lehnte sich zurück, die Katze zog die Krallen ein, allein die Augen reichten aus, die Maus zu bannen. Man erlebt doch so allerhand nach Feierabend, was? Hat doch einen an der Hand, wie? Was fürs Herz, oder?
    Regungslos starrte ich Frau Wachtel an, meine Zehen in das Gedicht gekrallt.
    Nun, da möchte man doch sicher hin und wieder was erzählen, wie? Was man nach Feierabend so treibt, was? Natürlich ganz unter uns. Frau Wachtel verzog die Lippen zu etwas, was ein
    Lächeln sein sollte, der Messerschnitt krümmte sich zu einem lebendigen Säbel.
    Durch ein fernes, immer stärker werdendes Brausen drang ihre Stimme zu mir. So hatte die Muschel gerauscht, die der Vater mir Vorjahren ans Ohr gehalten hatte, ehe er mich würgte.
    Nun, wie denkt man darüber, eine gewaltige Woge spülte die Stimme in meine Ohren. Du erzählst, und ich halte den Mund.
    Nein, nein, nein, empörte sich Kopfinnen. Ja, sagte Kopf- außen und senkte das Kinn auf die Brust. Schuldig.
    Na, dann wollen wir mal wieder. Frau Wachtel stemmte ihren Oberkörper von der Gummimatte und rückte ihren Stuhl vor die Schreibmaschine.
    Und du, Frau Wachtel stieß in dieses Du wie in ein Jagdhorn, du schreibst die Briefe von gestern noch einmal ab.
    Also, fragte Frau Wachtel am nächsten Morgen, schlürfte ihren Kaffee, paffte, ihre Augen gläsern wie von einem ausgestopften Tier.
    Ich machte den Mund auf, fuhr mir mit beiden Zeigefingern rechts und links zwischen Oberkiefer und Wangeninneres und klaubte eine Zahnklammerhälfte heraus, legte das Plastikgebilde in die rosa Dose und wiederholte die Prozedur mit äußerster Sorgfalt am Unterkiefer. Speichelfäden schlierten auf den Aktenordner: Eilt.
    Angeekelt verzog Frau Wachtel das Gesicht. Morgen ist die vorher raus, verstanden? Nun?
    Mit dem Bruder gesprochen, sagte ich. Einen Brief geschrieben. Dann geschlafen.
    So! Gesprochen, geschrieben, geschlafen. Was hast du mit dem Bruder gesprochen? Wem hast du den Brief geschrieben? Was stand drin?
    Frau Wachtel preßte wieder ihren Oberkörper auf den Tisch. Durch die weiße Bluse sah ich, wie sich ihre Brüste in dem Büstenhalter hochschoben.
    Über Fußball, sagte ich. An meine Tante, sagte ich.

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