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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Zu Abend habe ich Schwarzbrot mit Holländerkäse gegessen.
    An deine Tante?
    Herzliche Grüße zum Namenstag, sagte ich. Und gute Gesundheit.
    So, sagte sie. Wenn das alles ist... Sie ließ den Satz eine Weile in der Schwebe, als hielte sie einen abgeschnellten Pfeil noch einmal auf.... gehen wir wohl doch am besten zu Dr. Viehkötter.
    Frau Wachtel sah auf die Uhr. Also, an wen war der Brief, was stand drin?
    Ich, ich weiß es nicht, würgte ich. Ich begann zu ahnen, daß es nicht möglich ist zu erfinden, zu erzählen für einen, den wir fliehen möchten; zu einem zu sprechen, der uns angst macht, kleinmacht, zusammenstaucht. Geschichten kann man nicht erpressen, abpressen. Zum Erzählen gehört Liebe. Zu dem, der zuhört, und zu dem, wovon die Rede ist.
    Ein Huhn, brach es aus mir heraus. Ein Huhn. Der Onkel hat gestern ein Huhn geschlachtet. Die Wörter hatten sich buchstäblich aus der Luft gegriffen, das Huhn sich mir wortwörtlich in den Mund gelegt.
    Ein Huhn geschlachtet, wiederholte Frau Wachtel entgeistert. Der Onkel. Sie sah mich mißtrauisch an. Sie war angeschlagen. Ich nahm meinen Vorteil wahr.
    Ja, fabulierte ich. Und das habe ich der Tante geschrieben. Sie ist in Kur. - Das war sie vor zwei Jahren wirklich gewesen. - In Bad Meinberg. Im Haus Sonnenwinkel.
    Wäre Frau Wachtel auch nur mittelmäßigen Verstandes gewesen, hätte sie sogleich erkannt, daß ich log. Nie und nimmer schlachten kleine Leute mitten in der Woche ein Huhn. Statt dessen erkundigte sie sich nach der Gesundheit der Tante, die sie gar nicht kannte, nach deren Gebrechen und Wohlergehen. Allgemeine Schwäche, sagte ich, schon besser.
    Ja, seufzte Frau Wachtel. Manche ziehen eben das große Los.
    In der Berufsschule winkte mich Herr Zender in der ersten Pause zu sich. >Dergestalt<, sagte er und sah mich an.
    Ich zog die Augenbrauen hoch.
    >Dergestalt<, wiederholte Herr Zender. Zuviel >dergestalt<. In, warten Sie, drei Aufsätzen, davon nur einer von Ihnen, siebzehnmal >dergestalt<. Wie erklären Sie sich das?
    Kleist, stotterte ich, rot bis über die Stirn. Heinrich von Kleist. >Michael Kohlhaas<. Ich ... mir gefällt dieses Wort.
    Hm, brummte der Lehrer. Aber gleich siebzehnmal in drei Aufsätzen. Hat es Ihnen denn wenigstens was eingebracht?
    Mir trat der Schweiß auf die Stirn. Da, sagte Herr Zender und reichte mir sein Taschentuch. Keine Angst. >Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Ach, wir Armen!< Aber in Zukunft etwas mehr Abwechslung, bitte. Der Stil macht die Musik.
    Ich war schon an der Tür, als er mich noch einmal zurückrief: Sind Sie sicher, daß Sie hier am richtigen Platz sind? Hier, er gab mir das Buch, das er in der vorigen Stunde gelesen hatte. Ich habe gemerkt, daß Sie sich dafür interessieren. Fjodor Dostojewski. Schon einmal gehört? Ich nickte. Danke, sagte ich. Danke.
    Am liebsten hätte ich mich mit Buch und Butterbrot auf eine Bank im Park verkrochen, aber Trudi wartete auf mich. Ihr weißes Schneemanngesicht sah zerlaufen aus, als habe ihr eine Naturgewalt zugesetzt. Der Lehrer hatte sie aufgefordert, das schöne Gedicht aus ihrem Aufsatz noch einmal aufzusagen, als Auszeichnung und Ansporn. Trudi aber hatte die Strophe vergessen, wußte nicht einmal mehr, worum es ging. Der Lehrer habe die Verse dann selbst vorgetragen und gefragt, was das heiße, Treu und Redlichkeit. Keiner habe zu antworten verstanden, worauf der Lehrer ihnen einen Vortrag gehalten habe, hinter dem sich der Pfarrer verstecken könne. Zehnmal hätten alle in ihr Heft schreiben müssen: Ich muß meinem Lehrherrn treu sein. Und: Du sollst deinen Lehrherrn nicht betrügen. Was redlich sei, wisse sie aber immer noch nicht.
    Na hör mal, sagte ich. Du hast es doch schon aufgeschrieben. Redlich meint, du betrügst nicht.
    Warum, fragte Trudi beleidigt, sacht der Dischter dann nischt jleisch, du sollst nischt betrüjen, wie in den Zehn Jeboten. Warum sacht er redlisch, ein Wort, dat keiner kennt?
    Die Woche verstrich, und noch eine ohne Nachricht von Sigismund. Seit unserem Regenkuß hatte auch der Bruder ihn nicht mehr gesehen.
    Tag für Tag fragte mich Frau Wachtel nach meinen freien Stunden aus. Ihr jedesmal eine Geschichte zu erzählen, daran hätte ich mich, zähneknirschend, gewöhnen können. Hätte irgend etwas erfunden oder aus >Hör zu<, >Lukullus<, >Bäckerpost<,>Nimm-mich-mit<-Heftchen, >Wahre Geschichten unserer Leser< aufgetischt. Niemals eine aus meinen Büchern. Perlen vor die Säue: niemals. Doch Frau Wachtel wollte

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