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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Ich überlegte kurz. Göttlich war eine Eigenschaft, angeboren wie schwarze oder weiße Haut. War das Kind göttlich, mußte es wohl auch die Mutter sein. War sie aber nicht. Befriedigt entriß mir der Herr Kaplan die Büchse mit den Kartoffelkäfern und tauchte sie ein paarmal in die Regentonne. Maria war und blieb ein Mensch, obwohl sie einen Gott geboren hatte. Mir war's recht. Ein Frosch konnte sich in einen Prinzen verwandeln, eine fromme Frau einen Wechselbalg gebären oder ein Kind, klein wie ein Daumen; je verwunderlicher, desto besser.
    An der Haustür stand die Schwester, trat von einem Fuß auf den anderen, hatte die Prüfung ungeduldig abgewartet und zog mich nun mit sich, lachte dem Bruder ins ernste lange Gesicht.
    Der Raum war etwa so groß wie unser Kinderschlafzimmer. Das kleine Fenster ging zum Garten hinaus. Die drei Wände mit Büchern bedeckt. Ein Raum nur für Bücher! Die Borromäusbücherei. Ich hatte von diesem Ort schon gehört wie vom Kölner Dom oder dem Möhlerather Schloß; die Cousinen hatten sich hier hin und wieder Romane ausgeliehen.
    Die Bücher sahen nicht schön aus. Sie waren alt, stumpf, glänzten nicht wie die Bücher bei Kaisers Karl. Aber sie waren da. Für mich da. Jedes einzelne. Hier durfte ich nun jeden Donnerstag der Schwester des Herrn Kaplan bei der Buchausleihe helfen und dafür soviel Bücher mit nach Hause nehmen, wie ich mochte. Die braunen Karteikarten mit Namen und Adresse der Benutzer mußten mit den Signaturen der Bücher und einem Datumsstempel versehen werden.
    Die Mutter glaubte es nicht, warf die Bücher in die Einkaufstasche und rannte mit mir zur Kaplanei.
    Es dat och wohr, platzte sie mit verlegenem Ärger heraus. Et kost kenne Penne? All dä Krom he? Die Mutter zählte die drei Bücher auf die Kommode in der Diele wie falsches Geld.
    Ja, das ist richtig. Hat Ihnen Hildegard das denn nicht gesagt? fragte die Schwester des Kaplans erstaunt.
    Die Mutter warf mir einen giftigen Blick zu: Waat, bes mer do- heem sin, sagte der Blick. Die Schwester nahm die Bücher eins nach dem anderen und schob sie mir wieder untern Arm. Zu Hause verschwand ich gleich hinterm Hühnerstall. >Waldmärchen< hieß das eine, »Kleiner Spatz mit blauer Feder< das andere Buch. Ich schlug das dritte zuerst auf. >Drei drehen die Erde herum und andre wundersame Geschichten<.
    Es mußten Wunder sein. Märchen. Weit weg von der Wirklichkeit. Bei Feen und Hexen, Zwergen und Riesen, Prinzen und Prinzessinnen fühlte ich mich sicher. Es gab Menschen. Sie waren Tatsachen, und man mußte so tun, als lebte man mit ihnen. Meine Seele aber lebte in den Wörtern.
    Die Sommerferien waren vorüber; ich hatte Mühe, mich wieder im Alltag zurechtzufinden. Nicht in der Schule, die schien mir meinen Märchen und Geschichten verwandt, zwar ohne die Überraschung der Wunder, doch mit allen Merkmalen der Gerechtigkeit, Strafe für böse, Belohnung für gute Taten. Anders war das mit den Klassenkameraden. Je tiefer ich in meinen Geschichten versank, desto fremder wurden sie mir. Ich brauchte Zeit für meine Bücherfreunde. Das ging auf Kosten derer aus Fleisch und Blut. Ich spielte mit ihnen, weil ich Angst hatte, immer nein zu sagen. Sie legten mir das als Hochmut aus. Ich fürchtete ihre Roheit, vor allem aber ihre Unberechenbarkeit.
    Rote Beeren hingen in den Zweigen der jungen Ebereschen, die entlang den neuen Bahngleisen gepflanzt worden waren. Auf dem Brachland daneben blühten Disteln, üppig, grell violett, gut einen Kopf größer als ich. Aus diesem Gestrüpp brachen sie hervor, Sigrid Gerschermann, die Tochter des Friseurs, Irmi Frenzen aus der Kolonie, wo die höheren Angestellten der Rhenania wohnten. Und Helga Fritz, deren Vater neben meinem an der Maschine in der Kettenfabrik stand; sie hatte immer Hunger und tat für ein Butterbrot alles. Birgit, mit der ich den gleichen Schulweg hatte, versetzten sie einen derben Stoß in den Rücken, und die feine, gut erzogene Stimme Irmis schrie, Hau ab, das hier geht dich nichts an. Birgit stürzte davon, ich wollte hinterher, als mich rechts und links zwei kräftige Arme unterhakten und vorwärts schleppten, während mir die dritte, Helga, etwas durch die Knie-kehlen strich, was mich aufschreien und in wilden Bocksprüngen und Verrenkungen toben ließ. Ich fiel in die Knie, um dem peinigenden Kitzel zu entgehen, doch da fuhren die mit Widerhaken bewehrten Borsten erst recht unter die dünne Haut.
    Das alles geschah nach meinem Aufschrei in

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