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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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vollkommener Stille. Sie übertrieben es nicht, doch sie ließen auch nicht von mir ab. Ich flehte, winselte, wimmerte nicht. Kam gar nicht auf die Idee, ums Aufhören zu betteln. In meinem Kopf war ich bei der kleinen Meerjungfrau, die bei jedem Schritt, den sie tat, einen Schmerz verspürte, als schnitte ein Schwert ihr tief in die Füße.
    Zu Hause bemerkte man nichts; der Großvater war nicht da, die Großmutter weckte Pflaumen ein, die Mutter saß über Körben voller Ketten. Aber als ich am Nachmittag den Weg zur Borromäusbücherei zurückgelegt hatte, konnte ich mich vor Schmerzen kaum noch auf den Beinen halten. Ich taumelte der Schwester des Herrn Kaplan in die Arme. Annemarie sollte ich sie nennen, hatte sie mir gesagt.
    Sie zupfte die Stacheln heraus und versorgte meine Kniekehlen mit essigsaurer Tonerde. Wie leicht ihre Hände waren, wie zuverlässig. Wenn sie sagte, gleich muß ich dir weh tun, tat es auch weh; aber viel weniger doch, als wenn die Mutter versprach, es tut gar nicht weh, und dann zupackte. Jetzt endlich, da ich mich in Sicherheit wußte, kamen die Tränen. Schluchzend erzählte ich, was passiert war.
    Und du hast dich gar nicht gewehrt? fragte Annemarie entsetzt. Ich sah sie groß an. Sich wehren? In meinen Büchern wehrte man sich nicht. Man duldete wie die Heiligen, oder man zauberte. Sich wehren taten doch nur Jungen und Soldaten. Und die Bösen, bevor die Guten siegten.
    So, meinst du, sagte Annemarie. Da bin ich ganz anderer Ansicht. Auch Mädchen müssen sich wehren. Du bist keine gute Fee und keine böse Hexe. Mit Abrakadabra kriegt man Bösewichter nicht aus der Welt. Hier. - Annemarie griff in das Regal >Für Jungen<: Jetzt liest du mal das hier. Die Märchen haben erst einmal Pause.
    Der feste Einband zeigte einen Jungen mit blonden Haaren und einem pfiffigen sommersprossigen Gesicht. >Kalle Blomquist<, las ich. Auf dem zweiten Einband, robust wie der erste,war ein kräftiger dunkelhäutiger Junge zu sehen, mit breiter Nase, dicken Lippen und schwarzen Locken, nackt bis zur Hüfte, nur mit einem Tigerfell bekleidet: >Bomba, der Dschungelboy<. Ein Heidenkind! Der Großmutter durfte dieses Buch nicht vor die Augen kommen.
    Ich las die Bücher widerwillig. Nicht nur wegen ihres Inhalts. Die Bücher waren heruntergekommen, speckig, eselsohrig, Flecken, wer weiß wovon, gelbe Abstreifungen wie von Ohrenschmalz zwischen den Seiten. Aber Annemarie hatte mir keine neuen Märchen oder Zaubergeschichten mitgegeben, und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich wechselweise in die Welt eines schwedischen Jungen oder eines im Urwald lebenden Halbwilden zu versetzen. Kalle Blomquist unterstützte mit seinen Kameraden die Polizei beim Einfangen eines Räubers, Bomba kämpfte täglich um das nackte Überleben. Von sprechenden Steinen, Vögeln, Blumen; von fliegenden Teppichen, Koffern, Pantoffeln; von Kutschen, Königen, Kaiserpalästen; von Zaubersprüchen und Wunderworten keine Spur. In der rauhen Welt dieser beiden so verschiedenen Jungen wurde gerannt, geschwommen, geklettert. Geschickt und listig mußte man sein, mußte seinen Kopf gebrauchen und sich selbst tüchtig ins Zeug legen, einstehen für das, was man sagte und tat. Auf Feen und Heinzelmännchen konnte man lange warten.
    Ich hatte die beiden Bücher noch nicht ganz zu Ende gelesen, als der Glasbläser kam. Schnalzend schlug der flinke kleine Mann ein graublau kariertes Leintuch auseinander und breitete es mit geschickten, schnellen Bewegungen über dem Lehrerpult aus. Seine Geräte, die er ebenso behende aus einer Koffertasche packte, erklärte er, sie vor unseren Augen herumwirbelnd, so nebenher und unverständlich, als fürchte er, die Geheimnisse seiner Kunst zu verraten. >Bunsenbrenner< nannte er die Stange, einem Kerzenhalter ähnlich, in deren Flamme er Glasstäbchen schmolz, um durch ein silbernes Rohr nur mit seinem Atem aus ihnen die wunderlichsten Gebilde zu formen. Kugeln blies er wie Seifenblasen, Birnen und bauchige Vasen, und am Ende blies er einen Schwan. Einen Schwan aus hauchdünnem Glas, mit einem langen, anmutig geschwungenen Hals, die Flügel mit leich-ter Kerbe zu beiden Seiten gezeichnet, sogar die Schnabelhälften fein geritzt. Vom Mund des Glasbläsers schwebte der Schwan ins Licht, schwamm im Septemberlicht, glitzernd in den Farben des Regenbogens, verletzlich, schön.
    Und nun, der Glasbläser setzte den Schwan vorsichtig auf das Pult, nun seid ihr an der Reihe. Wer die beste Kugel, die rundeste

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