Das verborgene Wort
kauend, hinzu. Erlösungen aller Art waren mir vertraut. Aus den Klauen von Drachen und Zauberern konnte man so gut erlöst werden wie aus denen von Verbrechern und wilden Eingeborenen. Wovon hatte Jesus uns erlöst?
Von der Sünde, sagte der Herr Kaplan. Er ist für die Sünde aller Menschen gestorben, auch für deine, Hildegard.
Wie war das möglich? Jesus war doch lange tot, saß längst zur Rechten des Vaters im Himmel und konnte mich gar nicht gekannt haben. Ebenso wenig wie die anderen Menschen, die ja auch weiterhin Böses taten. Der Kreuzestod, ein einziger Fehlschlag. Wenn ein Vater zusah, wie sein Kind am Kreuz verreckte, konnte dabei nichts Gutes herauskommen. In meinen Geschichten wäre es einem solchen Vater übel ergangen, zumindest hätte er das gleiche erdulden müssen wie bei Moses: Zahn um Zahn. Aber ich schwieg. Ich wollte es mit dem Kaplan nicht verderben. Wegen der Heiligenbildchen. Und mit dem Vater Gott erst recht nicht. Mit Vätern war nicht zu spaßen. Am besten, man spurte. Daß Jesus schließlich nach drei Tagen auferstand und in den Himmel fuhr, befriedigte am Ende und versöhnte mich beinahe. Aber unheimlich blieb mir Gottvater doch. Und dann war da noch der Heilige Geist, mit dem ich erst recht nichts anzufangen wußte. In Gestalt einer Taube! Tauben kannte ich, Birgits Vater hatte einen Taubenschlag, die Vögel kackten unsere Gartenmauer voll, dafür lag von Zeit zu Zeit die eine oder andere sonntags auf dem Teller. Wozu sollte Gott eine Taube sein? Erst nachdem ich die Märchen vom Vogel Rock, vom Zaunkönig und vom kleinen Spatz mit blauer Feder gelesen hatte, begann ich zu verstehen und betrachtete den Heiligen Geist als eine Art Zaubervogel, der im Auftrag seines Züchters Wunder wirken ging.
Der Herr Kaplan erzählte die aufregendsten Geschichten mit teilnahmsloser, fast gelangweilter Stimme, als ginge ihn das alles im Grunde nichts an. Erst wenn er am Ende fragte, was uns derliebe Gott mit dieser Geschichte sagen wolle, geriet er in Fahrt. Überhäufte uns mit Ermahnungen für ein gottesfürchtiges Leben, malte den Vater im Himmel in so fürchterlichen Farben, daß Birgit einmal aus Angst vor seinem allgegenwärtigen strafenden Arm zu weinen anfing und erst mit der Vorstellung zu beruhigen war, der liebe Gott müsse so gräßlich sein, um den weitaus gräßlicheren Teufel zu besiegen.
War er milde gestimmt, kam es vor, daß der Herr Kaplan eine Geschichte begann und dann fragte, wer sie weitererzählen könne. Ich wetteiferte darin mit Rainer, der mit mir vom Kindergarten in die Schule gekommen war.
Diesmal durfte ich von Moses im Körbchen erzählen; erzählte, wie er den Nil hinuntergefahren kam, am Anleger und der Piwipp vorbei, wie er uns gewunken hatte, dem Großvater, dem Bruder und mir, als er sicher um die schwarze Kribbe herumgeschwommen, dann aber beinah von den Wellen eines Schleppkahns überschwemmt worden und schließlich in der Kurve hinter der Rhenania verschwunden war. Möwen hätten auf seinem Körbchen geschaukelt und ihre Flügel ausgebreitet, um den kleinen Moses vor der grellen Sonne zu schützen.
Nach dieser Stunde hielt mich der Herr Kaplan zurück und lud mich zu sich nach Hause ein.
Der Herr Kaplan wohnte in einem alten, efeuüberwucherten Haus hinter einer hohen Backsteinmauer mit einem kunstvoll gemauerten Torbogen. Seine Schwester, klein, füllig, wieselflink, führte ihm den Haushalt. Sie hatte einen Kuchen gebacken, dünn und trocken und mit Aprikosen belegt, so hart, daß er mir von der Gabel sprang. Tart nannte sie ihn. Wie anders schmeckte dies als die Buttercrememassen, für die Julchen Tröster in der Nachbarschaft berühmt war, oder die Napfkuchen der Mutter, mal zu bröckelig, mal zu naß. Die Tart des Herrn Kaplan schmeckte wie die feinen Teller und Tassen, die Girlandentapeten, die Stehlampe mit blaßgrünem Seidenschirm, vornehm schmeckte die Tart.
Auf dem Weg durch den Garten half ich, die Blechdose mit Kartoffelkäfern zu füllen. Wie ruhig die gepeinigten Hände des Kaplans auf dem Stamm eines jungen Pflaumenbaums lagen, wie sicher er die Schädlinge von den Stauden las. Hier eine welke Blüte abknipsend, da eine Raupe entfernend oder eine Rose, de-ren volle Blüte sich schwer zur Erde neigte, mit einem Bambusstock stützend, unterzog der Geistliche meinen Glauben an den lieben Gott und die heilige katholische und apostolische Kirche einer strengen Prüfung. Ich versagte ein einziges Mal. Ist Maria heilig? Ja. Ist Maria göttlich?
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