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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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auf. Dat he hät ösch dat Booch jeklaut. Enfach metjenomme. Avver et hät sing verdeente Stroof ald je- kritt. Op de nacke Fott. Dat künnt öhr jlöve. Die Mutter machte Anstalten, mir den Faltenrock zu heben und die Unterhose herunterzuziehen.
    Mit vorgestülpten Lippen, dicke Kaugummiblasen aufwerfend, die zerplatzten, als lachten sie mich aus, stand Heinzchen, schon im himmelblauen Schlafanzug mit weißem Kragen, in der Tür.
    Um Gottes willen, Frau Palm, griff Frau Unkelbach ein, lassen Sie doch das Kind in Frieden. Es hat doch wohl schon genug ausgestanden. Was hat dir denn an diesem Buch so gut gefallen, Kind?
    Dat dat die Sprache Jottes is, schniefte ich.
    Von der Tür kam das Plopp einer Kaugummiblase.
    Heinzchen, herrschte Frau Unkelbach, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst im Bett keinen Kaugummi kauen. Du putzt dir jetzt die Zähne noch einmal und verschwindest. Also Hildegard, du bist doch noch viel zu klein für einen >Schott<. Komm, sieh mich mal an. Sie löste mich aus dem Griff der Mutter, ließ sich in einen Sessel fallen, legte einen Arm um mich, zog mich an sich heran, unsere Augen jetzt in gleicher Höhe. Ihre Augen waren wäßrig hellblau, die Lider gerötet von der trockenen, warmen Zimmerluft. Doch als ich mich diesen Augen, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, anvertraute, sprühte weit hinter dem verschossenen Blau im Schwarz ihrer Pupillen ein Funken der Augen Anianas. Da endlich verspürte ich einen scharfen Schmerz und heulte los. Warf mich der verdutzten Frau an den moosgrünen Angorapulli, zwängte meinen Kopf zwischen ihre Brüste und versuchte, mich zu vergraben vor der ganzen Welt.
    Die Mutter riß mich zurück. Du versaust dä Frau dä jute Pullover mit dingem Jebröll. Mer jonn jitz heem.
    Frau Unkelbach setzte mir die Mütze, die ihr in den Schoß gefallen war, wieder auf. Und den >Schott<, den kannst du behalten. Hier braucht ihn doch niemand. Und das hier kannst du auch mitnehmen. Sie lief ins Kinderzimmer und kehrte mit einem
    Buch in der Hand zurück. Heinzchen hat es doppelt. Ich schluchzte immer wilder, wußte mich nicht mehr zu fassen. So mußte sich der Schächer neben Jesus am Kreuz gefühlt haben, als der ihm das Himmelreich verhieß. Gnade statt Strafe.
    Erst als die Mutter ungeduldig zum Aufbruch mahnte, war ich wieder bei mir und schielte auf das Buch: Es war der zweite Band von >Tausendundeiner Nacht<. Ich preßte die Lippen zusammen. Die hier hatten Bücher genug.
    Zu Hause nahm mir die Mutter den >Schott< wieder ab: Dat künnt dir so passe. Jeklaute Bööscher behale.
    Dienstags und freitags kam in seinem schwarzen, fadenscheinigen Anzug mit steifem weißem Kragen der Herr Kaplan in die Klasse, kaum älter als dreißig, dünn und groß, ein schmales Aknegesicht. Mal mit der linken, mal der rechten Hand riß er unablässig lose Hautlappen eines schuppigen Ekzems aus den Spalten zwischen den Fingern, behutsam, um einen möglichst langen Hautstreifen zu fassen, den er blitzschnell mit vorstoßender Zunge, wie ein Chamäleon das Insekt, im Mund verschwinden ließ. Beide Hände glänzten dunkelrot wie gehäutete Hasen.
    Er erzählte Geschichten aus der Bibel, die ich meist von Ania- na, den Messen und den Kinderlehren schon kannte. Doch hier, im Schulzimmer mit der letzten Rechenaufgabe an der Tafel, der Landkarte am Ständer, neben dem Zeigestock und im Staub zerbröckelnder Kreide, erschienen sie in einem anderen Licht. Besonders die Geschichte von Gott Vater und Sohn wollte mir nicht mehr einleuchten. Fest stand, daß der Sohn dem Vater nicht gewachsen war. Schon seine Geburt war sonderbar verlaufen. Ich wußte, wie es in einem Stall aussah, dreckig, stinkig, kalt. Seine Mutter, Maria, war Jungfrau. Jungfrauen konnten keine Kinder kriegen. Nur Frauen. Um Frauen zu werden, mußten Jungfrauen heiraten. Maria war keine Frau, aber eine Mutter. Jungfrau und Mutter. Ein Wunder, sagte der Kaplan. Doch wozu war ein solches Wunder gut? In den Märchen hatten Wunder immer einen Sinn, führten zu einem guten Ende. Hier nicht. Dieser Vater ließ nicht nur die Mutter seines Sohnes im Stich, sondern, als es hartauf hart kam, auch den Sohn selbst. Allmächtig hin oder her. Warum der Vater seinem Kind, dem einzigen, nicht geholfen habe, wollte ich wissen. Auf daß die Schrift erfüllet würde, antwortete der Kaplan und schnappte nach einem Daumenhäutchen. Ich sah ihn verständnislos an. Damit hat er uns alle erlöst, fügte er, auf seinem Daumenhäutchen

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