Das verborgene Wort
Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm. Wer mich ißt, wird durch mich leben.< Es lief mir kalt den Rücken herunter, so wie damals bei der Geschichte von der bösen Stiefmutter, die den Stiefsohn zu Schwarzsauer verkocht und dem Vater als Leibgericht aufgetischt hatte. Dieses Verbrechen war bestraft und der Sohn gerettet worden, hier aber wurde alles auf den Kopf gestellt, forderte Gott selbst den Verzehr von Fleisch und Blut, Menschenfleisch und Menschenblut, heidenartig. Es war schauerlich schön, diese Sätze wieder und wieder zu lesen, bis es mir beinah den Magen umdrehte von so viel Fleisch und Blut. Später lief alles auf eine markstückgroße Oblate im Mund hinaus; die Wörter so viel wunderbarer als die Wirklichkeit.
Mein Heft füllte sich mit schönen Wörtern und Sätzen, >süßer als Honig und tropfende Waben<. >Lasset uns also ablegen die Werke der Finsternis und anziehen die Waffen des Lichts.< >Ich liebe, Herr, die Zierde deines Hauses, die hehre Wohnung deiner Herrlichkeit. Hosanna in der Höhe.< Darum singen wir mit den Engeln und Erzengeln, mit den Thronen und Herrschaften und mit der ganzen himmlischen Heerschar den Hochgesang deiner Herrlichkeit.
Dagegen kam kein >Heute back ich / Morgen brau ich< an, kein >0 du Fallada, der du hangest<, kein >Wovon soll ich satt sein? / Ich sprang nur über Gräbelein<, kein >Abrakadabra<, >Rinkarolla Appeldipäppek Ich berauschte mich an den großen Worten, ihrer Melodie, den Bögen der Sätze, schlug sie um mich wie kostbare Gewänder, legte mir Wörter wie >Seelenspeise< zu, >Manna Himmelsbrot<, >Meerstern<, >Herzblut<, >Hoffnungsstern<, >Lie-besmahl<, >Herzensblüten lilienweiß<, Wörter, die sich auf mir niederließen wie Verbandsmull, weich, leicht, schmerzstillend.
Aber auch das Schaurige war schön. >Herr, laß mich nicht zugrunde gehen mit den Sündern, mein Leben nicht verlieren mit den Menschen, voll von Blutschuld. An ihrer Hand klebt Frevel, und voll ist ihre Rechte von Geschenken.< Zitternd vor geheimer Lust, schrieb ich die ersten sechs Strophen eines Kirchenlieds in mein Heft: >Tag des Zornes, Tag der Zähren wird die Welt durch Brand zerstören, wie Sybill und David lehren. Welch ein Schrecken wird entstehen, wenn wir Jesu kommen sehen, streng zu richten das Geschehen. Laut wird die Posaun erklingen, mächtig durch die Gräber dringen, alle vor den Richter zwingen. Tod und Schöpfung werden beben, wenn die Toten sich erheben, Antwort im Gericht zu geben. Und ein Buch wird aufgeschlagen, treu darin ist eingetragen jede Schuld aus Erdentagen. Sitzt der Herr dann, um zu richten, wird sich das Verborgene lichten, nichts kann vor der Strafe flüchten.< Das war nach meinem Herzen. Gerechtigkeit. Basta mit Gnade und Vergebung.
Das Credo lernte ich auswendig. >Er ist aus dem Vater geboren vor aller Zeit, Gott von Gott, Licht vom Lichte, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater, durch ihn ist alles geschaffene Das hatte keinen Sinn. Aber Kraft, Macht. Fast gewaltsam drangen die Wörter in mich ein. >Er wird wiederkommen in Herrlichkeit, Gericht zu halten über Lebende und Tote, und seines Reiches wird kein Ende sein.<
In diesem Frühjahr wurde die wiederaufgebaute Kirche mit einem Pontifikalamt eingeweiht. Ich durfte mit den weißen Kindern gehen, wenn auch nur bei den kleinen, die eine Kerze trugen, aber keine Fahne. Dafür hatte ich ein Frühstück im Bauch. Zwei ältere Mädchen kippten unter Halleluja und Meßdienerläuten um und wurden samt Fahnen auf den naßkalten Kirchplatz getragen. Ich schob mir ein Vivil in die Backentasche.
Das weite, hochgewölbte Kirchenschiff war von den Stufen bis zur Empore unterm Glockenturm, auf der Honigmüller an einer Orgel und nicht mehr am Harmonium saß, erfüllt von Sei-ner Herrlichkeit, Herr Gott der Heerscharen, Hosanna in der Höhe. Oben jubilierte der Kirchenchor im Sturm der Orgel, die mit Pauken und Trompeten vom Schützenverein noch verstärkt wurde. >Gloria in excelsis Deo!< Aniana machte ein Zeichen, wir bliesen die Kerzen aus. Im vorigen Jahr hatten sich Mädchen die Zöpfe versengt, andere ihre Kleider mit Wachs bekleckert.
Am Altar schwenkten die Diakone ihre Weihrauchfässer, Schwaden waberten um den steinernen Opfertisch, stiegen auf zum Tabernakel, zum Allerheiligsten, und als der Weihbischof die Monstranz hob, brach der goldene Zierat wie Herbstsonne durch den duftenden Nebel. In vollen Zügen sog ich den Weihrauch ein,
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