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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Korsett an. Dazu ging sie in Begleitung der Mutter hinaus. Kam sie wieder, mußte der Wäschemann sich umdrehen. Ächzend und rot von der Stirn bis zum Brustansatz, eine tiefe Schlucht zwischen den mächtigen
    Erhebungen überm hochgewölbten Leib, stand die Tante da, den Rock gelockert um die Hüften schlotternd, während der Wäschemann von einem Fuß auf den anderen trat, als könne er kaum an sich halten, die Tante zu sehen in ihrem lachsfarbenen, stäbchenverstärkten Satingestell, die silbernen Häkchen im Vorderverschluß, kleine lüsterne Köder auf steifleinernem Band. Die Augen weit aufgerissen, warf er seinen Körper schließlich herum und blickte irgendwo in den Raum in Richtung Tante, aber bestimmt nicht auf die Tante selbst, das hätte ich schwören können. Drei Vater unser<, dat kost drei Vater unser< und einen Schmerzensreischen, rief die Großmutter. Worauf die Frauen wieherten und die Tante in den Flur entwich.
    Bevor sie das Korsett kaufte, gab es noch manchen Aufgesetzten, und der Wäschemann mußte immer deutlichere Qualen von Begierde und Verzicht an den Tag legen. Die Frauen kauften eben weit mehr als Stoff und Faden, sie kauften die Idee von sich selbst, sich selbst als einzigartiger Frau. Einmal, er sah an diesem Tag besonders schlecht und dünn aus, fiel der Wäschemann sogar vor der Tante auf die Knie. Es hatte lustig aussehen sollen, als er die Tante mit demselben verzweifelten Blick angeschaut hatte wie die Missetäter in der Schule den Lehrer, bevor der den Zeigestock von der Wandtafel holte. Die Tante aber hatte sich schroff abgewandt und nicht gekauft.
    Das Gerücht, er halte sich auf seiner Tour durch Dondorf ungebührlich lange bei Specks Kätchen auf, einer bedachten Kriegerwitwe mit Ringellöckchen überm rosigen Mondgesicht, hätte den Wäschemann beinah Kopf und Kragen gekostet. Aber meine Damen, rief der arme Mann in ernsthafter Verzweiflung, wem glauben Sie das! Legte die Rechte, dann die Linke aufs Herz und machte Anstalten zu einem zweiten Kniefall, wäre die Großmutter ihm nicht beigesprungen: Su vell Vater unser< un Rosekränz kann dä ja nit bäde, wie dä für dat Specks Kätsche bruch. Als hätte die Großmutter den Wäschemann von einem Fluch erlöst, gaben die Frauen sich damit unter Gelächter zufrieden. Mir schenkte er daraufhin ein Tuch mit weißen Herzen. Rot wie die Farbe seines Plastikgaumens.
    Irgendwann blieb der Wäschemann weg. War er krank, gestorben, oder hatte er endlich die Zwölferwette im Toto gewonnen?
    Als die Todesanzeige kam, wußte niemand, wer das war, Karl- Friedrich Mertens. Bis man >Ronningen< las und die Tante auf den Wäschemann schloß. Mit einem schmerzensreichen Rosenkranz wurde seiner armen Seele gedacht, nicht ohne leise Enttäuschung, daß dieser betörende Zugvogel mit der schnellen Zunge, dem losen Mundwerk, den lockeren Reden im wirklichen Leben auch nur ein braver Familienvater gewesen war, wie man zu Hause selbst einen hatte.
    Der Großvater war nicht recht op däm Damm. Ging kaum noch aus dem Haus, die Pfeife schmeckte nicht mehr. Legte sich ins Bett und kam nur noch für ein paar Stunden am Tag in die Küche hinunter. Wenn er den Großvater untersucht hatte und sich am Spülstein die Finger wusch, machte Dr. Mickel jedesmal die gleiche Bewegung, zuckte die Achseln und kehrte beide Handflächen nach oben, als befehle er das Ganze in mächtigere Hände.
    Nach dem Weihnachtsfest waren wir von Beichtkindern zu Kommunionkindern geworden. Dreimal in der Woche hörten wir nun im Kommunionunterricht von den wunderbarsten Dingen: Blinde konnten sehen, Lahme gehen, Taube hören, Tote warfen die Bahre von sich und wandelten auf und davon. Tatsachen. Keine Märchen. Nicht ohne Mühe hatte mir der Pastor den Unterschied beizubringen versucht. Die Wunder in den Märchen waren Erfindung. Die in der Bibel Tatsachen. Nicht nur Jesus konnte Wunder wirken. Im Prinzip konnte es jeder, nur heilig mußte man sein. Um heilig zu sein, durfte man nicht sündigen. Ich half der Mutter beim Abwaschen, der Großmutter beim Kartoffelschälen, gab dem Bruder den größeren Happen vom Fleisch, stopfte mir jedes Widerwort in die Kehle zurück, jeden giftigen Gedanken gegen den Vater jagte ich aus dem Gehirn. Ich wollte heilig sein. Wunder wirken. Wenigstens eines. Ich wollte den Großvater heilen. Fromme Bücher sollten mir beistehen: >Der veruntreute Himmels 'Der Kranz der Engels >Das Schweißtuch der Veronikas »Die letzte am Schafott«, das Heiligenbuch. In

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