Das verborgene Wort
vierundvierzig hinaufzufuttern. Von ihren Korsetts zusammengehalten, stellten die Frauen Bastionen ehelicher Macht und sozialen Ansehens dar. Nur die Tanten aus Rüpprich, schweinchenrosa und mit ebensolchen quiekenden
Stimmen, verzichteten auf den Akt der Nächstenliebe, sich ein Korsett anzulegen, ließen vielmehr, was da jahrzehntelang mit dem Verzehr von Würsten, Schinken, Braten, Soßen und Kartoffeln angeschwollen und gereift war, unter blumig bedruckter Kunstseide frei fließen. Bäuche, Brüste, Hintern, wabbelnd wie Panas beim Schlachtfest. Aus den kurzen Ärmeln ihrer Kleider quollen rosige Würste hervor.
Ihnen gegenüber saß Tante Gretchen aus Ruppersteg. Niemand verstand es, so schlagfertig und treffend zu beleidigen, was ihre in alle Richtungen schielenden Augen geradezu magisch vervielfältigte. Von Spray gehalten, türmten sich ihre Haare zu einer wattigen Hochfrisur. Das Kleid, aus pflaumenblauem schillerndem Taft, war unter der Brust von einer faustgroßen, mit bunten Steinen geschmückten Agraffe gerafft, an der drei weiße Fellschwänzchen pendelten. Tante Gretchen hatte einen S-Fehler und stotterte, wenn sie aufgeregt war. Und das war sie immer. Jo-jo-joschöf, sagte sie, nu scheisch dem Alfred doch mal deinen Schi-schi-schigarrenabschneider. Schowat hat der doch noch nie scho-scho-scho Jesischt jekrischt. Unwillig, aber gehorsam zog der Onkel eine monströse, mit Perlmutt verzierte Vorrichtung aus der Hosentasche und ließ sie herumgehen, derweil die Tante mich nötigte, ein Medaillon, das sie um den Hals trug, zu öffnen. Da-dat isch ein Je-jeschenk von dä Ki-ki-kinder. Mit spitzen Fingern brachte ich das hühnereigroße, ovale Gebilde auseinander. Weischt du, wer dasch ischt? fragte die Tante. Alle sahen mich erwartungsvoll an. Die Tante roch nach >Farina gegenüber und nach Achselschweiß. Statt einer Antwort nieste ich ihr ins Gesicht, einmal, zweimal, dreimal, konnte gar nicht aufhören, die Tante in ihrem Taft mit feinen Speichelpünktchen zu besprenkeln. Alle lachten. Die Tante klappte das Medaillon wieder zu, goß sich etwas Kölnisch Wasser auf ein spitzengesäumtes Batisttuch und tupfte ihr rosa Gesicht.
Schön sah die Mutter heute aus in ihrem neuen Kleid mit den angeschnittenen Ärmeln, die wie Flügel abstanden. Daß es kratzte, sah man ja nicht. Ich aber wußte, sie litt in diesem Kleid, ahnte aber auch schon, daß sie dieses Leiden brauchte. Es hielt sie im Gewohnten fest. Cousine Hanni hatte der Mutter vor einer Woche eine Dauerwelle gelegt und gestern abend die Haare auf-gedreht. Vorbei die Zeit, wo die eiserne Brennschere, in der Ofenglut erhitzt, mit Lappen umwickelt, in die behandschuhten Hände genommen und durch die Haare geschlungen werden mußte, Strähne um Strähne, und bloß nicht zu nah an die Kopfhaut. Schön war die Mutter hergerichtet, hatte zur Kirche sogar ein schwarzes Hütchen zum grauen Mantel getragen und einen kurzen gepunkteten Schleier. Sie zog sich gern hübsch an. Adrett. Auf ihrem Körper versammelte sich das Abgelegte von einem halben Dutzend Frauen aus dem Dorf: der Schwester vom Pastor, der Frau vom Apotheker, der Frau vom Postvorsteher, der Tochter vom alten Bürgermeister, von Fräulein Kaasen. Manchmal, wenn man sie nur von hinten oder von weitem sah, rief man die Mutter beim Namen der Vorbesitzerin des Kleidungsstückes, das sie gerade trug.
Tante Lisa, ihre Schwester, hager, aufrecht und steif wie an ein unsichtbares Kreuz genagelt, hatte das dunkle Haar mit einem Kamm aus falschem Schildpatt hochgesteckt. Sie war die Frau von Onkel Adolf. Onkel Adolf trank. Nicht wie Onkel Schäng ein, zwei Klare, nachdem er ein Huhn auf den Klotz gelegt hatte, nicht wie die Großmutter, die jeden Nachmittag am Melissengeist nippte, oder wie Tante Henny, die immer einen Underberg im Handtäschchen hatte. Auch nicht wie Heribert Engel, Cousine Marias Verlobter, der im Kirchenchor sang und mit den Honoratioren nach dem Hochamt zum Frühschoppen ging. Nicht wie all die Onkel und Tanten, die, je mehr sie selbst vom Kröver Nacktarsch, Danziger Goldwasser, dem Aufgesetzten getrunken hatten, Adolf, dä Suffkopp, immer heftiger verurteilten, sich blähten vor Stolz und ihre Tugend herauskrähten. Onkel Adolf stand, anwesend oder nicht, stets im Mittelpunkt. Er war das schwarze Schaf der Familie. Die Person, die es der Verwandtschaft erlaubte, sich in ihrer Rechtschaffenheit zu rekeln, und all die Onkel und Tanten in einem Gefühl der Überlegenheit
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