Das verborgene Wort
sinn. Die Mutter packte mich. Ich trat ihr vors Schienbein. Sie schrie auf, ließ mich los. Ich kippte den Inhalt des Glases in hohem Bogen unter die verstörten Kinder, die sich kaum zu bücken wagten.
Maat, dat ihr fottkütt. Die Mutter wedelte mit den Armen wie nach einem Mückenschwarm. Un du hüvs dat Zeusch op. Vörrann.
* Eau de Cologne Heulend klaubte ich Himbeerdrops und Schokoladeneier, Karamelbonbons und Lakritzschnecken zurück ins Glas. Sogar ein Nappo war noch nicht geopfert.
Abends gab es das blaue Stöckchen hinter der Uhr. War das Opfer fehlgeschlagen, half dem Großvater vielleicht mein Martyrium, das Martyrium eines Kommunionkindes so kurz vor Ostern.
Am Ostermorgen steckte mir die Großmutter eine Weinbrandkirsche zu. Man muß Jott mehr jehorsche als de Menschen, lobte sie. Und: Nächstenliebe is die reinste Liebe.
Nachmittags kam der Großvater die Treppe hinunter, setzte sich in seinen Sessel unters ewige Licht und spielte mit dem Bruder und mir Eierköppe. Christus is auferstanden von den Toten, sagte die Großmutter, un dä Opa vom Bett. Jelobt sei Jesus Christus.
Zur ersten heiligen Kommunion bekam ich mein erstes eigenes Kleid. Es wurde genäht von Hilde, einer hageren, hoch aufgeschossenen Blondine, noch keine alte Jungfer, aber auf dem besten Weg dahin. Wer heiratet schon eine Frau, die aussieht, als hätte sie immer den ganzen Mund voller Stecknadeln. Sie kam mit ihrer Koffernähmaschine ins Haus.
Den Stoff kaufte man bei Frau Kranz, beim Kränzjen. Sie war alleinstehend, aber nicht, wie sich's gehört. Frau Kranz war keine Kriegerwitwe. Sie war geschieden. Ihre Tochter, ein paar Jahre älter als ich, schien mir wunderschön, wenn sie im kurzen plissierten Röckchen und mit wehenden Locken Rollschuh fuhr, in halbhohen, weißen Stiefelchen Pirouetten drehte oder eine meterlange Waage perfekt durchstand. Lautlos. Ihre Rollschuhe liefen auf Gummi. Meine schraubte ich an ausgelatschten Straßenschuhen fest und ratterte auf Eisenrädern los. Karneval tanzte Kränzjens Tochter als Funkemariechen durchs Dorf, und Fischers Pitter und Böckers Willi schlugen sich >Em Höttsche< ihretwegen die Köpfe ein. Natürlich ging sie aufs Lyzeum.
Kränzjen bot ihre Ware im Erdgeschoß eines neuen Einfamilienhauses an. Weich und verführerisch, voller Verheißung, voller
Beginn nahm der Geruch gefangen, wenn man die wenigen Stufen hinaufgestiegen und die Tür mit dem zirpenden Glockenspiel hinter sich geschlossen hatte. Aus den Stoffen - wirkliche Stoffe für unzählige mögliche Kleider - entfalteten sich prachtvolle Roben, die mit sanftem Rauschen die Luft erfüllten, ein vielstimmiges Geflüster, Geglitzer, Geschaukel. Vornehm und feierlich war der Geruch, und über allem ein Hauch von Veilchen, immerwährender Frühling aus Kränzjens blondiertem Gelock.
Hilde begleitete die Mutter und mich, ohne daß wir sie dafür bezahlen mußten.
Dä do. Hildes Stimme war spitz wie ihr zerstochener Zeigefinger, der auf einen der Ballen zuschoß, den dat Kränzjen mit dumpfem Knall auf den Ladentisch warf, blitzschnell ein paar Meter weit aufrollte und sich vor die Brust hielt, wie der Bettler Sankt Martins Mantelteil. Hilde strich von beiden Seiten über den Stoff, zerdrückte ihn in der Faust, als wollte sie einem Todfeind den Garaus machen, fand, daß der Stoff leicht knittere, worauf eine Lawine von Stoffballen den Ladentisch überflutete. Allen Geweben widerfuhr das gleiche Schicksal. Bei den teuren Seiden, die von schmalen Pappen nur vorsichtig abgewickelt wurden, packten Hildes Hände besonders derb zu, wobei sie immer wieder ihren Zeigefinger an der Unterlippe anfeuchtete, als blätterte sie in kostbaren Schriften. Hilde zwang Kränzjen, das Unterste zuoberst zu kehren. Endlich fiel ihre Wahl auf einen weißen und einen dunkelroten Wollgeorgette, den sie aus den Stoffmassen wieder hervorbuddelte. Hilde schaute die Mutter scharf an. Mich würdigte sie keines Blickes, Widerspruch zwecklos.
Wenn Hilde kam, wurde der dreiteilige Spiegel von der Frisierkommode abgeschraubt und im Wohnzimmer aufgestellt, ihre Nähmaschine setzte Hilde auf den Beistelltisch. An verschiedenen Punkten pikste sie mir ein Bandmaß aufs Hemd, fuhr mit Kreide über Schulter und Rücken und notierte Zahlen in ein kleines, schwarzes Wachstuchheft. Mit verblüffender Geschwindigkeit holte sie Stecknadeln aus ihrem Mund, die dort scheinbar ganz natürlich wuchsen, und stach mit ihnen zuerst auf hauchfeines Seidenpapier und
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