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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Stoffstücke, später auf mich und die Stoff-teile ein. Der Stoff kratzte. Stell disch nit esu an, sagte die Mutter, fuhr sich aber selbst an den Hals, wo der Stoff rote, unregelmäßige Flecken hervorrief, ruckte und zuckte mit Schultern und Schulterblättern. Sie bekam ein Kleid aus dem gleichen Stoff, ein Schnäppchen. Es war schlimmer als die Leibchen aus Lores Wolle. Damit ich mich nicht in der Kirche vor aller Augen kratzen würde, wurden Oberteil und Ärmel schließlich gefüttert und waren nun so steif, daß ich daraus hervorstak wie aus einem Pappkarton. In der Kirche trug ich ohnehin den Mantel der Cousinen. Dä es noch us dem Kreesch, sagte die Tante, die ihn vom Speicher geholt hatte. Mißtrauisch betrachtete ich den Mantel von allen Seiten, suchte nach Spuren, Blut wie von Böhm, einem Loch wie im Kristoffer Kreuz. Er war weißlich, verschossen, zu lang und war mir nicht geheuer. Kniestrümpfe mit Lochmuster bekam ich nicht. Unschamhaft, so die Großmutter, sei es, an einem Ehrentage nacktes Fleisch zu zeigen.
    Zwei Wochen vor dem Weißen Sonntag begannen wir in der Kirche zu üben. Gemeinsam mit Kurtchen Küppers mußte ich aus der Bank treten, ein spitzengesäumtes Bastkörbchen von der Kommunionbank aufnehmen, die Stufen zum Altar emporschreiten, knicksen, knien, bis zehn zählen, das Körbchen abgeben, das Körbchen empfangen, später aus den Händen des Pastors, jetzt, beim Üben, aus denen des Küsters, während der Pastor mit leiser, entschiedener Stimme seine Anweisungen gab. Ein ums andere Mal stapften wir, während sich die anderen Kinder in den Bänken räkelten, zum Tabernakel hinan, mit kurzen, schnellen Schritten zuerst, dann aber immer langsamer und feierlicher, je schwerer uns die Ehre in die Glieder fuhr.
    Es war ein Sonntag im späten April, eine blasse Sonne am Himmel, frischer Wind vom Rhein, alle Glocken glorreich gestimmt und der Vater mit Zylinder. Aus den Dachluken hingen die Kirchenfahnen, gelb und weiß, grün und weiß, ich trug ein Kränzchen aus weißen Organzarosen und wollte mich über die Spitzen der viel zu fest gesteckten Haarnadeln nicht empören. Mein Herz so rein und ohne Widerworte, was gleich geschehen würde, ließe mich nie wieder sein, wie ich jetzt war. Ich, Hildegard Elisabeth Maria Palm, würde mich mit Christus vermählen, ein Tempel Gottes würde ich sein, ein Gefäß seiner Liebe.
    Während Eltern und Angehörige auf reservierte Bänke in der Kirche verschwanden, sammelten sich die Kommunionkinder unter der Obhut von Aniana und Bertholdis auf dem Kirchplatz. Als die Orgel anhub, hatten wir uns längst paarweise aufgestellt und zogen nun, andächtig und aufgeregt, das Mittelschiff entlang, um dann, nachdem wir unsere Kerzen hinter der Kommunionbank in Halter gesteckt hatten, Mädchen links, Jungen rechts, in die vorderen Bänke einzurücken. Weiß, o ja, weiß war ich in meinem Herzen, weiß wie eine frisch getaufte Seele, strahlend wie das Weiß meines frisch gestärkten Mäntelchens, schimmernd wie die mannshohen Kerzen neben den golddurchwirkten Kirchenfahnen. Friedfertig wie das Lamm, das mit rotem Plattstich auf die weiße Seide der Standarte gestickt war, einen Wimpel mit dem Zeichen Christi zwischen den abgeknickten Vorderläufen haltend.
    >Herr, was im alten Bunde Melchisedek geweiht<, spielte die Orgel zur Opferung, und ich schob mich aus der Bank, >das halten wir zur Stunde als Gabe auch bereite Kurtchen Küppers war schon unterwegs, nahm das Körbchen von der Kommunionbank, diesmal war es ernst, war es mit Oblaten gefüllt, genau sechsundzwanzig Stück Leib Christi für sechsundzwanzig Kommunionmädchenmünder, und, es mit beiden Händen vor mir hertragend, schritt ich zum Pastor hinauf, knickste, gab das Körbchen ab, knickste, kniete, zählte bis zehn, und wieder auf meinen Platz. Das alles aber mußte nun viel schneller gehen, als wir es geübt hatten. Das Lied hatte nur zwei Strophen, und als die Gemeinde schwor: >Nimm unser Tun und Streben, Gedanken, Herz und Sinn, nimm unser ganzes Leben, o Gott, nimm alles hin<, waren wir erst auf der halben Treppe, und es bedurfte eines ausgiebigen Nachspiels, bis wir wieder auf unseren Plätzen saßen. In den Bänken hatten die Menschen nachdenkliche Stellungen eingenommen und schauten verträumt vor sich hin oder in die Ferne. Die Großmutter bedeckte die Augen mit der Hand, Tante Berta spitzte die Lippen, als hätte sie etwas Süßes im Mund, Onkel Schäng zog die Stirn kraus, als täte ihm etwas weh,

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