Das verborgene Wort
lagen wir auf unserer grauen Decke, faul und satt, verdauten die Brote, die ersten Klaräpfel. Ich lauschte Großvaters Mundharmonika, dann seinem Schnarchen, pfeifend, als wehte ein eisiger Wind, hörte den Möwen, dem Wellenschlag, den Atemzügen des Bruders zu und spielte das Ohrenspiel. An langen Fäden stiegen meine Ohren wieder hinauf in das brausende Schweigen des Himmels. Doch was jetzt an meine Ohren drang, kam nicht von oben herab, war nicht weit entfernt, wehte von den Pappeln beim Anleger und war doch himmlisch schön, zart und süß, wie es Honigmüller nicht einmal mit dem Zimbelstern auf seiner Orgel zusammenbrachte. Ein paar Minuten rührte ich mich nicht, dann, vorsichtig, langsam, als könnte ich dieses Wunderbare verscheuchen, setzte ich mich auf und stupste den Großvater in die Seite.
Opa, flüsterte ich, wat is dat? Obwohl es warm war, stellten sich die Härchen an meinen Armen auf. Ich hatte doch keine Angst. Und traurig war ich auch nicht. Warum stürzten mir die Tränen aus den Augen? Ich zitterte. Schluchzend wiederholte ich meine Frage.
Dat, sagte der Großvater, dat is ene Jeije. Do muß de doch nit kriesche*, Kenk. Dat is ene Zijeuner, dä do am Spielle es.
Nä Opa, ich riß meine Hand aus der seinen, dat kann nit sin.
* weinen
Waröm dann dat nit? Die Zijeuner künne Jeije spielle wie der Düvel. Der Großvater lachte.
Wie war das möglich? Ein Zigeuner und eine Geige? Wie paßte das zusammen? Konnte ich dem Großvater trauen? Oder war das wieder so eine Geschichte wie mit dem Hasenbrot?
Hierjeblieben! kommandierte der Großvater, der ahnte, was ich vorhatte. Auf Hochdeutsch, so ernst war es ihm. Kinder han bei de Zijeuner nix zu sööke. Mer jonn jitz hem. Die Töne waren verstummt. Hatte, wer auch immer sie hervorbrachte, uns bemerkt?
Zigeuner waren eine Art Müppen. Jedenfalls keine Dondorfer oder Großenfelder, Hölldorfer oder Strauberger. Sie kamen, ähnlich wie die Müppen aus der kalten Heimat, nirgendwoher. Ihre Bretterwagen durften sie in den Rheinwiesen abstellen, wo sich ihre Gäule, träge, stämmige Tiere, auf Gemeindekosten fettfraßen. Dann zogen sie weiter. Nirgendwohin. Zigeunern gegenüber fühlten sogar wir uns im Überfluß, wenn die Mutter Abgelegtes aus dem Abgelegten der Honoratioren aussonderte, die Großmutter im Herbst ihre Körbe mit Birnen und Äpfeln füllte, bis die Zähne in den braunen Gesichtern der Frauen blitzten. Dennoch war es uns, wie allen anständigen Kindern im Dorf, verboten, dem Lager nahe zu kommen. Zigeuner, hieß es, liebten kleine Kinder, besonders blonde mit Locken. Die nähmen sie mit sich auf Nimmerwiedersehen. Meine Haare waren braun.
Bei den Pappeln suchte ich den Geiger am nächsten Tag vergeblich. Auch am zweiten Tag war er nicht da. In der Dämmerung schlich ich zum Kreisrund der schäbigen, tannengrün oder ochsenblut gestrichenen Wagen, von denen der Lack blätterte. Einer stand ein paar Meter abseits, himmelblau, wie der Osterhasenkarren des Bruders. Ein Mann lehnte seine Wange an etwas, das ich aus der Skizze in meinem Geschichtenbuch als Geige wiedererkannte, und machte mit seinem rechten Arm, den ein Stöckchen in einen Stachel verlängerte, insektenartige, nervös unstete Auf- und Abbewegungen auf dem Instrument. Aus seinem Larvengesicht stachen zwei schwarze Glaskugeln glänzend und blind ins Leere. Seine Beine standen leicht auseinander, eine Kordel hielt die Hose um den Bauch zusammen. Aus den ge-beugten Knien schwang sein Rumpf vor und zurück, als webe er die Töne mit seinem Leib zu einer Melodie zusammen. Die Melodie hatte keinen Anfang und kein Ende, sie war ruhig und rücksichtslos und traf mich tief im Herzen.
Diesem Mann wäre ich gefolgt, wohin auch immer seine Klänge mich geführt hätten. Er sah aber niemanden und nichts, war der Welt so entrückt wie ich, nur daß er ganz auf seine Geige zusammengeschnurrt schien, während ich mich öffnete, weit wurde und weiter, grenzenlos zerfließend wie meine Tränen, die mir wieder übers Gesicht liefen. Eine Frauenstimme, schrill und bestimmt, rief etwas, das ich nicht verstand. Ein Hund bellte, ein zweiter winselte, als würde er geschlagen. Die Frauenstimme näherte sich. Ich kam wieder zu mir. Die Geige brach ab. Unter dem himmelblauen Wagen hervor raste ein Hund auf mich zu. Ich stürzte davon, dahin, wo es hell war, geriet in meiner Verwirrung mitten in die Wagenburg, dürftig von Pechfackeln und ein paar Glühlampen erleuchtet. Quer durch das Lager
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