Das verborgene Wort
Müpp. Und evangelisch.
Die Zigeuner zogen bald weiter. Sie blieben nie über den Winter. Wenig später kaufte sich Hanni eine Musiktruhe auf Raten, und eines Nachmittags spielte sie mir etwas vor. >Und der Himmel hängt voller Geigen<, sang eine Frau. Sie hatte recht. Geigen hingen im Himmel, da, wo die Freiheit war und die Liebe. Geigen waren Instrumente für die Sehnsucht und die Seele, so, wie Trompeten für die Fäuste, Trommeln für die Füße, Orgeln für das >Vater unser<.
Ich wollte eine Geige mehr als je zuvor. Als ich im Herbst mit dem Zeugnis voller Einsen bis auf eine Zwei im Rechnen zum falschen Großvater fuhr, setzte ich alles auf eine Karte. Ihn allein zu sprechen war nicht einfach. Noch hatte er den Hof seiner Tochter nicht überschrieben, noch genoß er die Achtung eines Familienoberhaupts. Jeder beäugte mißtrauisch jeden, der sich dem falschen Großvater näherte, und gesellte sich augenblicks dazu, um fremden Vorsprung in der Gunst des alten Mannes zu verhindern.
Etwa hundert Meter vom Wohnhaus entfernt, stand die hohe Scheune, wo die Strohballen lagerten, bis hoch unter den First. Hier versteckte die Tante zu Ostern Eier und Süßigkeiten. Mein Bruder und ich fanden sie fast alle, und die anderen Neffen und
Nichten wären leer ausgegangen, hätten wir nicht Barmherzigkeit walten lassen und den Schatz beinah gerecht geteilt.
Hinter dieser Scheune war das Klo. Ein Plumpsklo, wie zu Hause, nur fehlte hier das hergerichtete Zeitungspapier. Es aufzutreiben war nicht einfach, nur das Kirchenblatt der St. Elisabeth-Gemeinde kam ins Haus. Vor Besuchen in Rüpprich schnitt die Mutter eine Portion Papier zurecht und verstaute sie in ihrer Handtasche.
Als der falsche Großvater an diesem Nachmittag erst hinterm Brotkasten, dann bei den Einmachgläsern, schließlich in den Strickmustern der Tante zu kramen begann und sich dann beutelos auf den Weg machte, folgte ich ihm. Kaum war er hinter der Scheune verschwunden, sprang ich auf ihn zu und hielt ihm ein Bündel solider Zeitungsstücke entgegen. Der alte Mann stutzte einen Augenblick, ehe er mir das Papier wortlos aus der Hand riß und hinter der Tür mit dem Dreieck verschwand.
Kaum war er draußen, hüpfte ich ihm erneut vor die Füße. Opa, sagte ich, isch hab noch viel mehr Papier. Dat kanns de alles haben. Un lauter Einsen im Zeuschnis. Opa, isch hätt' jern eine Jeije.
Überrascht ließ der falsche Großvater die restlichen Zeitungsstücke los. Ein Windstoß fegte sie über den Hof bis weit in die Stangenbohnen bei den Treibhäusern. Irritiert schaute der alte Mann den Fetzen hinterher, machte ein paar Schritte in Richtung Garten.
Opa, sagte ich und hielt ihn am Ärmel zurück, isch hab Papier jenuch. Isch hätt' so jern eine Jeije.
Der Großvater blieb stehen. Mein Herz klopfte, aber nicht da, wo es hingehörte, sondern im Magen. Klopfte auch nicht, sondern ballte eine Faust nach der anderen. Opa, sagte ich noch einmal, eine Jeije. Viel fehlte nicht, und ich wäre vor ihm auf die Knie gefallen, wie vorm König im Märchenbuch.
Der falsche Großvater stand noch immer regungslos und sah auf mich hinab. Ich ergriff seine Hand. Es war schwer, in seinen Zügen zu lesen. Jo Kenk, esch han et jehoot, sagte er, eine Jeije. Eine Jeije. Wat wills de dann mit ner Jeije?
Die Mutter rief nach mir. In einer Viertelstunde ging der letzte Bus. Et is ja bald Weihnachten, sagte der falsche Großvater undgab mir einen Klaps auf die Schulter. Fast sah es aus, als lächle er unter dem Schnurrbart.
Im November fuhr der Vater mit dem Rad nach Rüpprich und kam zurück, eine große Kiste auf dem Gepäckträger. Die Arme weit, noch weiter zu öffnen und tief Luft zu holen, befahl er mir, nickte und meinte, es könne reichen. Nach dem Hochamt am vierten Advent sah ich die Mutter mit Honigmüller, dem Organisten, sprechen. Guter falscher Großvater. Er hatte sogar an das Geld für die Musikstunden gedacht.
Heiligabend gab es Heringssalat, purpurn gefärbt vom Saft der Roten Bete, es gab Selleriesalat und Mamas Salat, kleingeschnittenes Rindfleisch mit Gurken und Zwiebeln. Gelassen betrachtete ich diesmal den Umfang der Portionen, sah gleichgültig zu, daß dem Bruder, wie üblich, die größeren Fleischstücke zukamen und der dickere Himbeersaft, half der Mutter beim Tischabdecken und lachte bereitwillig, als der Vater mehrmals die Arme vor der Brust öffnete und schloß, schnaufend wie eine Lok, die in den Bahnhof fährt. Wie leicht es war, ein gutes Kind zu
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