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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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schwang sich die Kette der Birnen, die von einem Generator der Gemeinde mit Strom versorgt wurde. Blindlings rannte ich in zwei Arme, an eine Brust, weich und weiblich, duftend nach Fett und Kartoffelfeuer. Die Gestalt umschlang mich, hob mich ein Stück in die Luft und stellte mich in armeslanger Entfernung vor sich hin auf die Füße. Eine Sturzflut von Worten ging auf mich nieder. >Kind<, verstand ich und >Hause<. Einfach >Hause<, ohne >nach<, >zu< oder >im<. Ich schluchzte und stampfte. Immer mehr Frauen und Kinder umringten uns. Plötzlich hielt meine Fängerin inne, alles verstummte, alle Köpfe wandten sich einem Wagen zu, größer und glänzender als die übrigen. Eine hochgewachsene Frau in langen, schwarzen Gewändern, das Haar straff nach hinten gekämmt, große, goldene Ringe in den Ohren, stand in der Tür. Ihr Gesicht, viel heller als das der anderen Frauen, schwebte die Stufen hinab auf mich zu und lachte mich an. Das Gebiß der Frau war aus purem Gold, ein Goldzahn neben dem anderen, hier und da eine Lücke, ein schwarzes Loch wie die Zacken in der Krone der Mutter Maria im Kapellchen. Da fehlte auch immer ein Goldteilchen. Sie ergriff meine Hand, kehrte die Handfläche nach oben und brachte ihr Gesicht ganz nah, immer näher, ihre schweren Augenlider und die weiten Nasenlöcher zuckten wieein Katzenschwanz. Lange, unendlich lange forschte sie in meiner Hand, als hielte sich dort eine geheime Inschrift verborgen, schleuderte meinen Arm von sich, stürzte wieder in ihren Wagen und kehrte alsbald zurück, eine zweite Person, die sich augenscheinlich sträubte, hinter sich die Stufen hinabziehend. Hanni!
    Die Cousine war gut zehn Jahre älter als ich und ging op de Wäv, arbeitete in der Weberei in Erpenbach, verdiente ihr eigenes Geld so gut wie ein Mann. Sie war die lustigere und jüngere der beiden Schwestern. Maria, die ältere, war von einer sauertöpfischen Frömmigkeit, die sich mit einem fanatischen Eifer für gesundes Essen paarte. Erst vor kurzem hatte sie mich verführt, eine kalte, weiße, saure Masse zu essen. Jokurt nannte sie die, und hundert Jahre alt werden könne man damit, versicherte sie. Vor Schreck hatte ich gespuckt. Noch mehr als neunzig Jahre Joghurt.
    Hanni ging im Karnevalszug bei den Möhnen mit.. Kein Schlips war vor ihr sicher. Sie konnte als einzige aus der Verwandtschaft schwimmen, quer durch den Rhein bis zur Piwipp, und die weißen Flecken auf ihren Fingernägeln übertrafen die meinen. Immer wieder wollte ich die eine Geschichte von ihr hören, wie sie sich als Kind über die schlafende Tante Martha aus Bollingen hergemacht und ihr eine Perle nach der anderen zerbissen hatte, die ganze dreireihige Kette entlang. Anstatt ihren Forschergeist belohnt zu sehen, hatte sie eine Tracht Prügel bezogen. Dabei hatte ihre Mutter selbst gezweifelt, ob die Perlen echt seien, und gesagt, nur durch Reinbeißen könne man das feststellen. Drei Woche danoch, schloß Hanni jedesmal mit Genugtuung, wor de Tant duut, su kleen verkohlt. Se hät en een Zijar- rekästsche jepass. Eine Phosphorbombe. Mer hät se blos noch am Jebess erkannt.
    Hanni stolperte die Stufen aus dem Wagen der schwarzen Frau, sah mich, schrie meinen Namen, schnappte mich und rannte mit mir durch die Dunkelheit auf die fernen Lichter der Straßenlaternen zu, das Gelächter der Frauen und Quieken der Kinder in unseren Rücken. Kurz vor der Kirche blieben wir stehen. Erst jetzt sah ich Hannis nasse, gerötete Augen, ihr vom Weinen gedunsenes Gesicht unter den braunen Ringellocken.
    Hanni, sagte ich und faßte nach ihrer Hand, die sie mir heftigentzog, dann schmerzlich lächelnd überließ, Hanni, wat hät se dir jedonn?
    Nix, Heldejaad, die Frau hät mer nur de Wohrheet jesacht. Hanni schluchzte auf, schaute in ihre rechte Hand, schlug mit dem linken Handrücken schnell ein paarmal in die Handfläche, als könnte sie dort etwas auslöschen, etwas, das ihr immer wieder die Tränen in die Augen trieb. Die Wahrheit? Die kannte doch nur einer: der liebe Gott. Und der schaute den Menschen in die Seele und nicht in die Hand.
    Mutter und Großmutter erwarteten mich voller Ingrimm. Der Ferdi Mäuser sei wieder hinter ihr hergewesen, beschwichtigte Hanni sie. Da habe sie mich aus der Kirche kommen sehen und sei mit mir im Pfarrsälchen verschwunden, um ihn abzuschütteln. Dort hätten wir einen ergreifenden Vortrag gehört: Die Jungfrau, ein Tempel des Heiligen Geistes. Das verstanden die beiden Frauen. Ferdi Mäuser war ein

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