Das verborgene Wort
hätte befördern können. Und wenn schon durchs Fenster, dann doch nit met däm Kopp ze esch. Dann machten sie sich wieder ans Politisieren. In Düsseldorf wurde bald gewählt. >Un et Arnöldsche flööt<, fing Onkel Schäng nach einem Klaren, seinen Kandidaten ehrend, sogar zu singen an, ein Rippenstoß der Tante brachte ihn zum Schweigen.
Tanten und Cousinen wollten vor Mitleid mit der Großmutter schier zerfließen. Sun Blamasch. Met däm Kopp ze esch us däm Finster. Klammheimlich aber lachten sie sich ins Fäustchen. Em Läve wor dä Opa doch lammfromm, hörte ich Cousine Hanni zu ihrer Schwester sagen. Do hät he de Muul nit opjemaht. Jitz hät he et dä Ahl noch ens jezeesch, ergänzte Julchen, die Nachbarin. Nä, sun Blamasch.
Du, fragte der Bruder am Abend aus dem Bett heraus mit kleiner Stimme: Is dä Opa jetzt ein Engeische im Himmel? Oder liescht er in der Erd un schläft bis zum Jüngsten Tach?
Et kütt drop an, sagte ich wie die Erwachsenen, wenn sie nicht weiterwußten.
Engeische jefällt mer besser, sagte der Bruder.
Mir och, sagte ich und zog mir die Decke übern Kopf. Wir schluchzten uns in den Schlaf.
Anderntags lief ich nach der Schule, strikt verboten, an den Rhein. Warf mit vollen Händen Steine ins Wasser, die alle aussahen wie Gottvater vom Bild überm Bett der Großeltern. Warf den einen Stein hoch in den Himmel, dem lieben Gott ins Gesicht. Ich warf und heulte, schrie, warf und schrie, bis der Großvater am Ende recht behielt: Es tat gut. Es löste den Stein vom Herzen. Wenigstens für den Augenblick.
Die Großmutter nahm dem Großvater seinen eigenwilligen
Auszug lange übel. Erst als Mutter und Tante, Nachbarn und Bekannte darauf drängten, ließ sie für ihn eine Messe lesen. Eine billige, stille.
Ich vergaß den Großvater nicht. Und nicht seine Musik, seine Mundharmonika. Doch ich sehnte mich nach anderem. Ich hatte davon gelesen in Büchern, wo Jungen Knaben hießen, ihre Eltern Gemahlin und Gemahl. Durch Portale schritten sie, statt durch Türen zu gehen, Kies knirschte unter ihren Schuhen, und in ihren langgliedrigen, durchsichtigen Fingern hielten sie Geigen. Eine Skizze zeigte mir den Knaben Raimund an einem Weiher im Vollmond, und was er sich unters Kinn klemmte, war, so die Unterschrift, eine Geige. Eine wirkliche Geige hatte ich noch nie gesehen.
Ich wußte, wie die Orgel in der Kirche klang und das Harmonium im Kapellchen vom Krankenhaus, kannte Schilfrohrflöten, Großvaters Mundharmonika, kannte das Wimmern der Luftpumpe vom Blinden aus Strauberg, der sich jeden zweiten Samstag im Monat durch die Straßen tastete, den klapperdürren Schäferhund an straff gespannter Leine vorneweg. Granatsplitter, hieß es, hätten ihm beide Augen zerstört. Die dunkle Brille, die gelbe Binde mit den drei schwarzen Punkten, vor allem aber das Winseln der Luftpumpe ließen die Groschen reichlich aus den Sammeltassen in die Mütze fließen, die ein kleiner Junge, so anmutig wie der Blinde unheimlich, den Frauen mit einem stummen, süßen Lächeln entgegenhielt. Bis eines Tages das Gerücht aufkam, der Blinde sei in Großenfeld in einer üblen Spelunke gesichtet worden, saufend, mit Weibern und blitzend blauen Augen. Ein paar Dondorfer erwischten ihn am Ortsausgang, als er sein Moped aus den Weiden am Rhein hervorholte, den Jungen ins Körbchen setzen und ins nächste Dorf davonknattern wollte. Sie ließen seine blitzend blauen Augen Sterne sehen.
Trompeten kannte ich, Pauken und Posaunen von den Schützenbrüdern, und auf der Kirmes tauchte im Herbst ein Mann auf, der aus einem grobgezackten, etwa armlangen, dünnen Metallstreifen, den er Singende Säge nannte, Töne ähnlich denen der
Luftpumpe herausholte. Ich träumte von einer Geige. Geigen machten, daß die Menschen in Schlaf fielen und nie mehr aufwachten, daß sie tanzen mußten, ob sie wollten oder nicht, daß sie lieben mußten, wo sie vorher haßten.
Es war an einem Tag im späten September. Der Großvater kränkelte schon, und unsere Ausflüge an den Rhein waren seltener geworden. Lesen konnte ich nun besser als er, und ich wußte, daß die Großmutter das Hasenbrot schmierte. Merkwürdig still wurde er, wenn ich unter den Weiden, wo wir so viele Ritter versenkt, Prinzen gestärkt und Prinzessinnen erlöst hatten, mein Buch aufschlug und las. Er ging dann mit dem Bruder ein paar Büsche weiter.
Heute war es noch einmal wie früher. Der Sand hatte die Hitze des Sommers gesammelt und wärmte uns bis in die Knochen. Faul
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