Das verbotene Eden 01 - David & Juna
dieser Haltung, hoffend – betend – er möge etwas hören. Ein Atmen, einen Herzschlag, irgendetwas.
Doch da war nichts.
Der Junge war tot.
»Möge der Herr seiner kleinen Seele gnädig sein.« Meister Stephans Stimme holte David zurück in die Wirklichkeit. Als David zu ihm emporschaute, merkte er, dass seine Wangen nass vor Tränen waren.
Der Bibliothekar legte ihm die Hand auf die Schulter. Seine Haut wirkte grau, seine Lippen waren aufgesprungen und rissig. Auf seinen Stab gestützt, blickte er traurig zu ihm herunter. Als er sprach, war seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
»Wir werden immer weniger«, sagte er. »Die Tage der Menschheit sind gezählt.«
7
J una erwachte zum Klang dunkler Gesänge. Sie schlug die Augen auf und schaute zur holzgetäfelten Decke empor. Gwen lag dicht an ihren Körper geschmiegt, den Arm über ihrer Taille. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Eine Strähne ihres pechschwarzen Haares rollte über ihr Gesicht. Juna rutschte vorsichtig zur Seite, setzte sich auf den Rand des Bettes und gähnte herzhaft.
In der Küche stand noch eine Kanne mit kaltem Kamillentee. Sie schenkte einen Becher voll ein und leerte ihn in einem Zug. Dann ging sie zum Brunnen vor dem Haus. Düstere Schwaden stiegen in den Himmel. Der Geruch des Scheiterhaufens wehte bis zu ihr herüber.
Juna betätigte die Pumpe und ließ Wasser in den hölzernen Trog laufen. Mit schnellen Bewegungen wusch sie ihren Körper, anschließend schöpfte sie sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Wach und erfrischt ging sie zurück ins Haus, um sich anzuziehen. Gwen war ebenfalls aufgewacht und blickte schläfrig zu ihr herüber.
»Kommst du noch mal ins Bett?«
»Geht nicht, Liebste. Ich muss zum Tempel, das weißt du doch.« Gwen sackte mit einem Stöhnen zurück. »Ausgerechnet heute, an meinem freien Tag. Ich hatte gehofft, wir könnten ihn im Bett verbringen.«
Juna setzte sich neben sie und strich mit der Hand über ihren Rücken. »Das hätte ich mir auch gewünscht, aber Mutter hat nach mir geschickt. Vielleicht werde ich endlich erfahren, was der Hohe Rat zu tun gedenkt. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.«
»Du brennst richtig darauf, den Teufeln in die Eier zu treten, habe ich recht?«
Juna grinste. »Merkt man mir das so sehr an?«
»Und wie.«
»Sei’s drum. Machst du mir die Haare?«
Gwen nickte. »Aber gerne. Setz dich, dann flechte ich dir einen Zopf.«
Sie arbeitete schnell und geschickt. Sie beklagte sich zwar fortwährend, dass Juna ihre Haare besser pflegen sollte, aber mittlerweile gehörte das so selbstverständlich dazu wie ihre ständigen Ermahnungen, die Nägel länger wachsen zu lassen.
»Wozu? Damit ich sie mir im Kampf abbreche?«
»Damit man dich nicht mit einem unserer Feinde verwechselt.«
Juna versuchte, ihr einen Stups auf den Oberarm zu geben, und Gwen tauchte kichernd in die Laken ab. Als sie wieder auftauchte, spitzte sie die Ohren. »Was sind das für Gesänge?«
»Kommen vom Richtplatz.« Juna streifte ihr Leinenhemd über und zog den Gürtel fest. »Sie haben die Scheiterhaufen in Brand gesetzt.«
»So früh? Ich dachte, die Hinrichtungen seien erst für heute Abend angesetzt.«
»Mutter will nicht, dass das Ganze zu einem Spektakel ausartet. Sie sagte, dem Gesetz müsse entsprochen werden, aber das sei noch lange kein Grund, daraus eine Feier zu machen.«
»Bisher hat es doch immer ein Fest gegeben. Seltsam.«
Juna lag es auf der Zunge, zu erwähnen, dass sie noch viel Seltsameres gehört hatte, aber sie hielt sich zurück. Was zwischen ihr und ihrer Mutter besprochen worden war, ging niemanden etwas an. »Ich muss los.« Sie hauchte Gwen einen Kuss auf die Stirn und zog ihre Sandalen an. Nur noch den Dolch am Gürtel befestigen, dann war sie fertig.
Sie stand auf und vollführte eine Drehung.
»Wie sehe ich aus?«
»Wie immer. Schön wie der junge Morgen.« Gwen stieß ein müdes Seufzen aus, dann drehte sie sich zur Seite. »Vergiss nicht, die Tür zuzumachen, wenn du gehst.«
Juna lächelte. »Ich komme zurück, sobald das hier erledigt ist, versprochen.« Doch Gwen antwortete nicht. Ihren leisen Atemgeräuschen nach zu urteilen, war sie wieder eingeschlafen.
Juna verließ das Haus und ging den Hügel hinab in Richtung See. Um diese Zeit war noch nicht viel los. In der Dorfbäckerei brannte natürlich seit Stunden das Feuer, und auch in der Schmiede war bereits eingeheizt. Ansonsten lag alles noch in tiefem Schlummer. Nur am
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