Das verbotene Eden 01 - David & Juna
der Menschen bestimmten. Jede Stadt, jeder Hof, ja jedes Haus war einer bestimmten Göttin verpflichtet, und so konnte es geschehen, dass in Familien oder unter Freundinnen Uneinigkeit darüber herrschte, welche denn nun zuständig war. Deshalb konnte es nichts schaden, wenn man mehrere Figuren besaß und ihnen Opfer darbrachte. Die Devise lautete: lieber einmal zu viel gebetet als einmal zu wenig.
Der große Markt fand nur alle zwei Monate statt und war nicht zu vergleichen mit dem Wochenmarkt, der viel kleiner und bescheidener ausfiel. Er glich einem Volksfest, und so kurz nach Mittsommer war er besonders schön. Pfähle mit Blumenkränzen waren aufgehängt worden, farbige Banner flatterten im Wind, und zu Ehren der Götter gab es Opferstellen, auf denen Hühner oder Kaninchen dargeboten wurden. Überall erklang Musik, Theaterstücke wurden aufgeführt, und in den Wirtschaften rundherum schenkte man Wein und Met im Überfluss aus. Es duftete nach gebrannten Mandeln, Stockbrot und Speckfladen, nach warmen Kuchen und Apfelwein, und die Luft war erfüllt von den Rufen der Marktschreier und den Klängen traditioneller Saiteninstrumente.
Juna und Gwen bahnten sich ihren Weg durch die Menschenmenge, vorbei an einem Stand, an dem Fisch geräuchert wurde. Obwohl die Gasse auf einer Länge von einigen Dutzend Metern komplett vernebelt war, wurde Juna von vielen Besucherinnen erkannt. Seit der Verteidigung von Alcmona galt sie als Heldin, ihr Name war in aller Munde. Viele Frauen verbeugten sich vor ihr, berührten sie mit den Fingern oder sprachen Segenswünsche. Gwen betrachtete sie voller Stolz.
»Hätte ich gewusst, wie viel Aufsehen du erregst, hätte ich mir etwas Schöneres angezogen«, flüsterte sie, und ihre Wangen wurden rot vor Aufregung.
»Du bist schön genug«, antwortete Juna. »Ich hatte selbst keine Ahnung, dass ich so bekannt bin. Nächstes Mal sollte ich wohl den Helm aufsetzen und das Visier herunterklappen. Komm, lass uns schnell weitergehen, vielleicht ist es ja anderswo ruhiger.« Ihr Ziel war der Stand der Bogenbauerin aus Westerfelde. Juna hatte viel Gutes über die Qualität ihrer Eibenbögen gehört und wollte sich nun ihr eigenes Bild machen. Gwen war wie immer scharf auf die Stände der Tuchwebereien und Kleidermanufakturen, die im östlichen Teil des Marktes ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Sie hatte ein unerklärliches Verlangen nach neuen Stoffen und raffiniert geknüpften Kleidungsstücken. Sie konnte Stunden vor dem Spiegel verbringen, nur mit Schminken und Anziehen beschäftigt. Zugegeben, sie sah sehr hübsch aus, aber Juna fragte sich, ob das nicht doch ein bisschen wenig war. Wie sah es zum Beispiel mit Büchern aus? Weder sie noch Gwen hatten jemals lesen gelernt, doch im Gegensatz zu ihr schien Gwen unter diesem Mangel nicht zu leiden. Sie sagte immer, es interessiere sie nicht, was andere Leute vor so vielen Jahren zu Papier gebracht hätten; es würde für ihr tägliches Leben keine Rolle spielen. Juna konnte sich das ebenfalls nicht vorstellen, aber neugierig war sie doch. Gerade eben kamen sie an einem der wenigen Buchläden vorbei. Ein chaotischer Stand, in dem sich Dutzende alter Werke übereinandertürmten. Die Buchhändlerin war ziemlich alt, sie saß hinter einem der Türme, die Nase tief zwischen zwei Buchdeckeln vergraben. Juna sah die wertvollen, in Leder gebundenen Werke vergangener Zeiten und fragte sich, was wohl darinstehen mochte und warum die Menschen ihnen damals, vor dem Zusammenbruch, so viel Zeit und Aufmerksamkeit geschenkt hatten. Das Aufregende war, dass sie tatsächlich keinen Zweck zu erfüllen schienen. Seiten um Seiten nichts als bedrucktes Papier – was sollte das nutzen? Man konnte es weder essen noch damit kämpfen. Bücher waren ein rundum verzichtbares Luxusgut.
Sie nahm eines davon in die Hand und blätterte darin herum. Keine Bilder, nur Buchstaben. Auf dem Umschlag war ein Gebäude im Sonnenuntergang abgebildet, davor die Silhouette einer Frau.
»Interessiert?« Die Buchhändlerin hatte sie bemerkt und blinzelte über den Rand der Brille zu ihr herüber.
Juna zuckte die Schultern. »Was ist das hier?«
»Das? Lass mich mal sehen.« Die Alte watschelte heran. »Ja, dachte ich’s mir doch: ›Vom Winde verweht‹ von Margaret Mitchell. Ein Klassiker der Weltliteratur. Die Geschichte einer jungen Frau vor dem Hintergrund eines großen Krieges.« Sie beugte sich verschwörerisch zu Juna: »Die Liebesgeschichte mutet natürlich heutzutage
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