Das verbotene Eden 01 - David & Juna
rösten und hätte am nächsten Tag noch etwas für den Weg. Abgesehen davon: Sie war eine Jägerin. Es war ihre Bestimmung, Wild zu erlegen. Die Göttin der Jagd wäre enttäuscht, wenn sie es nicht täte. Was also ließ sie zögern? Hatte sie Angst, das Töten eines unschuldigen Tieres könnte ein schlechtes Omen für die bevorstehende Reise sein? Absurde Vorstellung.
Wie von Geisterhand berührt, erschien plötzlich das Gesicht des Jungen mit dem Baby vor ihren Augen. Statt des Rehs sah sie auf einmal
ihn
hinter den Zweigen stehen. Dunkle Augen, kurze dunkle Haare, gekleidet in seine seltsame Kutte. Er lächelte zu ihr herüber und hob die Hand zum Gruß. Was tat er da? Wusste er nicht, wie gefährlich es war, sich vor einen gespannten Bogen zu stellen?
In diesem Moment schnellte der Pfeil mit einem Zischen von der Sehne.
Dann war ein dumpfer Aufprall zu hören, ein Röcheln erklang, und etwas Schweres fiel zu Boden. Juna konnte nicht glauben, was eben geschehen war. Fast hätte sie geschrien. Was hatte sie getan? Sein Gesicht war so deutlich zu sehen gewesen, dass sie es hätte berühren können. Aber wie war das möglich?
Es konnte nur eine Vision sein. Langsam ging sie auf ihr Ziel zu. Etwas Dunkles lag hinter dem Busch. Einen schrecklichen Moment lang glaubte sie, eine Kutte zu sehen, zwei Füße in Lederschuhen. Dann bemerkte sie die weißen Tupfen und den langen Hals. Der Kopf war zur Seite gedreht, und die Zunge hing heraus. Ein Seufzer der Erleichterung stieg aus ihrer Kehle. Sie spürte, wie ihre Beine zitterten. Es war das Reh, nichts weiter. Und sie hatte es sauber getroffen, ganz so, wie sie es in der Jagdschule gelernt hatte. Ein Blattschuss, der einem Meister zur Ehre gereicht hätte. Der Pfeil steckte mindestens zwanzig Zentimeter tief im Fell, genau an der Stelle, an der sich das Herz befand. Das Tier war sofort tot gewesen. Sie konnte stolz sein. Wieso liefen ihr jetzt Tränen über die Wangen? Trotzig wischte sie mit dem Handrücken darüber und putzte ihre Nase an einem Blatt. Was war bloß los mit ihr?
Sie zog den Pfeil aus dem Körper, wischte ihn am Waldboden ab und steckte ihn zurück in den Köcher. Dann holte sie einen Strick aus ihrer Tasche. Sie band ihn zweimal um die Hinterläufe, schlang einen Knoten hinein und warf ihn über den nächsten tiefhängenden Ast. Mit einem kräftigen Ruck zog sie das Tier hoch, band den Strick am Baum fest und setzte ihr Jagdmesser an. Sie hatte das schon hundertmal gemacht. Kehlschnitt, ausbluten lassen, das Fell an den Läufen, kurz oberhalb des Fußgelenks, rundherum durchtrennen, die Bauchhöhle öffnen und die Innereien in einen speziellen Beutel füllen; zuletzt das Fell wie einen Handschuh abziehen. Einfache, routinierte Handgriffe.
Doch heute war alles anders.
Das Gesicht dieses Jungen wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf. Ihre Mutter hatte ihr einmal gesagt, dass sie vermutlich die Gabe des Zweiten Gesichts besaß. Die Fähigkeit, Dinge zu sehen, die bereits geschehen waren oder die erst noch geschehen würden. Es sei ein Talent, das in langer Tradition von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde. Auch ihre Großmutter habe diese Gabe besessen. Wenn das so war und sie tatsächlich in die Zukunft sehen konnte, was hatte die Vision dann zu bedeuten? Dass der Junge in Gefahr war? Dass er bald sterben würde? Durchaus möglich, schließlich waren es gefährliche Zeiten. Aber was hatte das alles mit ihr zu tun?
Die Sonnenstrahlen waren mittlerweile verschwunden. Zwischen den Bäumen war es dunkler geworden. Der Wald schien nur noch aus vertikalen Schattenfeldern zu bestehen. Das einsame Zwitschern einer Nachtigall drang durch die Zweige. Juna legte das Fell in eine Ledertasche, befestigte den ausgebluteten Körper mit Stricken hinter ihrem Sattel und schwang sich auf ihr Pferd. Der Schecke wieherte leise. Er spürte ihre Nervosität. Vermutlich fragte er sich, wann es endlich losgehen würde. Sie schnalzte mit der Zunge. Langsam trat sie den Rückweg an, den Kopf voller Gedanken.
19
D ie Tür ging auf, und Meister Sigmund erschien.
»Er wird dich nun empfangen, folge mir.«
David stand auf, öffnete seine Tasche und ließ Grimaldi hineinhüpfen. Dann folgte er dem Domschweizer mit bangem Gefühl ins Arbeitszimmer des Inquisitors.
Der Raum war mit dunklem Holz getäfelt. Durch ein schmales Fenster im rückwärtigen Teil fiel diffuses Licht, das sich auf Böden, Wänden und Holztäfelungen spiegelte. An den Wänden standen Regale,
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