Das verbotene Eden 01 - David & Juna
dann quetschte sie sich selbst hinterher. Der Mond schien von einem wolkenlosen Himmel herab. Die Zweige der Zeder zeichneten schwarze Scherenschnitte in den Himmel. Einer der Äste sah stabil genug aus, um sie zu tragen. Allerdings befand er sich gute zwei Meter über dem Giebel. Unmöglich, ihn von hier aus zu erreichen. Gewissenhaft prüfte sie den Untergrund. Das Stroh, mit dem das Dach gedeckt war, bot den Füßen keinen guten Halt. Wenn sie jetzt abrutschte, würde sie direkt vor den Füßen der Wache landen. Sie hängte sich die Tasche über die Schulter, packte eine der Hanfschnüre, mit denen das Stroh zusammengebunden war, und zog sich mit aller Kraft nach oben. Das Seil schnitt ihr in die Finger, aber sie biss die Zähne zusammen und machte weiter. Der Ast rückte in hoffnungsvolle Nähe. Noch zwei Griffe, dann war sie oben. Keuchend blickte sie sich um. Sie saß hier oben wie auf dem Präsentierteller. Zeit, dass Gwen loslegte.
Fast wie aufs Stichwort hörte sie, wie unten die Tür aufging.
»Stehen bleiben. Wer ist da?« Die Wache hatte Gwen sofort bemerkt.
»Ich bin’s, die Hausherrin. Ich muss zum Brunnen, einen Eimer Wasser holen.«
»Niemand darf das Haus verlassen.«
»Soll das ein Witz sein?
Ich
bin doch keine Gefangene. Der Befehl galt Juna, oder nicht?«
»Ich habe gesagt niemand.«
Juna musste sich ein Lachen verkneifen. Sie konnte förmlich sehen, wie Gwen der Kamm schwoll. Wenn sie etwas hasste, dann war es, Vorschriften zu bekommen. Und tatsächlich: Gwen fing an zu toben, dass ringsum die Lichter angingen. Höchste Zeit. Juna stellte sich breitbeinig auf den Dachfirst, ging in die Knie und stieß sich ab. Es war ein schwieriger Sprung, und sie hatte nur einen Versuch.
Der Ast sauste heran. Juna packte ihn und klammerte sich mit Armen und Beinen daran fest. Der Ast schwankte bedenklich, doch Gwen machte so ein Spektakel, dass niemand etwas mitbekam. Juna schöpfte Atem, dann kletterte sie wie ein Eichhörnchen nach oben. Sie ergriff den über ihr hängenden Zweig und balancierte Richtung Stamm. Mittlerweile hatten die ersten Leute ihre Häuser verlassen. »Was ist denn hier los?«, rief jemand. »Was soll der Lärm mitten in der Nacht?«
»Diese Schlampe verbietet mir, mein Haus zu verlassen«, wetterte Gwen. »Dabei stehe nicht ich unter Arrest, sondern Juna. Was ist jetzt, darf ich Wasser holen oder nicht?«
Die Wache wirkte verunsichert. Nach einer kurzen Bedenkzeit rief sie ihre Kollegin auf der anderen Seite des Hauses zu Hilfe. Genau wie Juna gehofft hatte. Der Platz unter dem Baum war jetzt unbesetzt. »Also gut«, hörte sie die Stimme der ersten Wache. »Ich werde Euch begleiten, also macht keine Dummheiten. Hauptsache, Ihr hört endlich mit diesem Geschrei auf. Ihr weckt ja die ganze Nachbarschaft.«
Der Brunnen lag etwa zwanzig Meter von der Haustür entfernt. Die empörten Anwohner taten ein Übriges, um Junas Flucht perfekt zu machen. Die Gardistinnen galten im Allgemeinen als hochmütig und genossen keinen besonders guten Ruf. Juna kletterte von Ast zu Ast, schwang sich hinunter und vergaß nicht, für den Rückweg ein Seil zu befestigen, an dem sie wieder emporklettern konnte. Dann verschwand sie ungesehen in der Nacht.
32
D ie Schmerzen in der Schulter hinderten David am Einschlafen. Jeder Atemzug wurde mit einem qualvollen Brennen quittiert. Es fühlte sich an, als würde jemand mit einem glühenden Schürhaken in sein Gelenk bohren. Egal ob im Liegen, Stehen oder Sitzen, der Schmerz war allgegenwärtig. Er überstrahlte alle anderen Verletzungen wie ein grollendes Gewitter, dessen Wolkenmassen den letzten Sonnenschein auslöschten.
Dabei war er so müde, dass er im Stehen hätte einschlafen können. Die Wirkung der Drogen war verflogen, sie hatten nichts als Müdigkeit und Verwirrung zurückgelassen.
Was war geschehen? In seinem Hirn schwirrten Fragmente von Bildern und Stimmen herum. Nachdem sie abgeholt worden waren, hatte man ihn auf eine Bahre geschnallt und in einen Raum gebracht, der mit irgendwelchen Dämpfen gesättigt war. Er erinnerte sich, dass er sich die Seele aus dem Leib gehustet hatte. Tränen waren über seine Wangen geströmt. Dann waren
sie
gekommen.
Die Erinnyen. Das Unheimlichste, was David je in seinem Leben gesehen hatte. Drei alte, runzelige Weiber, vollkommen nackt bis auf die Masken vor ihren Gesichtern. Und was für Masken das waren! Im Rausch der Drogen, die er einatmete, erschienen sie lebendig, und David glaubte zu sehen, wie
Weitere Kostenlose Bücher