Das verbotene Glück der anderen
halbe, abgerissene Seite gekritzeltes kurzes Begleitschreiben ohne Anrede: «Bin erst heute Morgen fertig geworden. Ich weiß, ich kann auf dich zählen.» Die Notiz ist auf den 16. Mai datiert, den Tag, an dem Unni starb.
Der Comic beginnt mit dem riesigen Porträt eines lächelnden, kahlköpfigen Mannes in mittleren Jahren, den Ousep nicht kennt. Es ist ein robuster, bäuerlicher Mann. Er sitzt im Lehnstuhlauf der Veranda seines Hauses im Schatten eines Jackfruchtbaums. Schauplatz ist eindeutig ein Dorf in Kerala. Unni ist in Madras aufgewachsen und in Kerala geboren, wo er jedoch seit seiner frühen Kindheit nicht mehr gewesen war. Da seine Eltern sich nach und nach von ihren großen, komplizierten Familien gelöst hatten, gab es zur Erleichterung aller Beteiligten keine Veranlassung, dorthin zu reisen.
Der kahle, bäuerliche Mann im Comic lächelt jetzt nicht mehr, und seine Miene wird immer ernster, so, als hätte er eine Erscheinung gesehen. Ganz offensichtlich hat er Angst. Er fängt an zu rennen. Er rennt einen Pfad hinunter, der sich durch einen Kautschukwald windet. Dann stürzt er und wirkt immer verängstigter, je näher die Erscheinung kommt. Der Comic wechselt dann abrupt zum Egmore-Bahnhof in Madras. Jemand, vermutlich der Erzähler, den man nicht sieht und aus dessen Perspektive die gesamte Geschichte erzählt wird, steigt in den Zug und reist durch die Nacht. Am nächsten Morgen fährt der Zug durch die grünen Hügel und alten Dörfer Keralas und kommt schließlich in Kollam an. Der immer noch unsichtbare Erzähler steigt in einen überfüllten Bus um und geht dann auf schmalen Pflastersträßchen durch ein Dorf. Dort begegnet er verschiedenen Leuten, und in manchen Feldern reden die Figuren ganz offensichtlich, denn es gibt Sprechblasen, die jedoch leer sind. Unni hatte vermutlich vor, sie später auszufüllen, in einer Zukunft, die er sich versagte. Die Dorfbewohner führen den unsichtbaren Erzähler an ein Flussufer, und schließlich gelangt er zu dem Haus, das am Anfang des Comics zu sehen war. Aber der kahle, bäuerliche Mann sitzt nicht mehr in seinem Sessel auf der Veranda. Auf der Veranda ist niemand zu sehen. Dann erscheint eine große, liebenswürdige Frau mittleren Alters. Und danach passiert etwas Merkwürdiges: Auf dem nächsten Bild sieht man einen gigantischen Büstenhalter, der sich als Hängebrücke über einenbreiten Fluss spannt und zwei Berge miteinander verbindet. Dann sieht man wieder die liebenswürdige Frau mittleren Alters. Sie führt den unsichtbaren Erzähler ins Haus, gibt ihm oder ihr eine Tasse Kaffee und zeigt auf eine Wand, an der verschiedene Fotos von dem kahlen, bäuerlichen Mann hängen. Dann führt sie den Erzähler durchs Haus, sie geht mit ihm durch lange dunkle Korridore und leere Zimmer und gelangt schließlich in einen Vorratsraum voller Jackfrüchte und Bananen. Sie zeigt auf eine Glühbirne hoch oben an der Decke. Das nächste Bild auf der vorletzten Seite des Comics zeigt den kahlen, bäuerlichen Mann riesengroß. Er sieht jetzt gütig aus. Irgendwo muss es diesen Mann geben: Aus seinen Augen spricht die Gewissheit eines Wesens mit Lebenserfahrung. Er kann also kein reines Fantasieprodukt sein. Der Mann lächelt friedlich und macht das Daumen-hoch-Zeichen, was für sein Alter und für die Gegend, in der er lebt, eher untypisch ist. Doch er ist zweifellos jemand, der gewonnen hat, etwas gewonnen hat. Die letzte Seite ist schockierend: Es ist ein dramatisches Farbporträt von Mariamma, die auf einem Bein steht und das andere Bein hochhebt, als wolle sie gleich losspringen, während sie mit dem Finger nach oben zeigt. Ihren blutroten Sari hat sie hochgerafft und in die Taille gesteckt. Man sieht ein Stückchen von ihren Schenkeln, und ihr dichtes schwarzes Haar weht wirr umher. Sie hat die Lippen gekräuselt und die wütenden Augen weit aufgerissen. Wie eine Trophäe steht sie auf einem Holzsockel mit einer Inschrift in Malayalam-Buchstaben, die keinen Sinn ergeben.
Damit der Comic seinen Sinn offenbart, braucht er eindeutig ein paar erzählende Worte. Es gibt sogar leere Sprechblasen für Dialoge und Schilderungen. Normalerweise sind Unnis Comics nicht so sehr auf Sprache angewiesen.
Was geschah also an dem Tag, als Unni starb? Er zeichnete einen Comic zu Ende, schickte ihn an jemanden, ging drei, vierStunden irgendwohin, ließ sich um zwölf Uhr mittags die Haare im St Anthony’s Frisiersalon schneiden, wie der Friseur bestätigt hat. Dann kehrte er
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