Das verbotene Glück der anderen
dabei kommt Hoffnungslosigkeit über sie, die eine Art Faulheit ist. Sie versucht, sich zu konzentrieren, aber wie immer schweifen ihre Gedanken ab. Sie denkt an den Hügel, die Kautschukbäume, die Bananenhaine und die Vögel ohne Namen. Sie denkt an Unni, an seinen Blick als Kind, an seine ruhige Pubertät, und wie er unermüdlich nach aggressiven Einzelgängern im Tierreich suchte.
Als er sechs oder sieben war, vielleicht noch jünger, das weiß sie nicht mehr genau, tat er oft, als sei er blind oder taub. Er schauspielerte so gut und so lange, dass sie es jedes Mal mit der Angst zu tun bekam. An Tagen, an denen er behauptete, er sei blind, ging er genau wie ein blindes Kind zur Schule: Auf dem Schulweg ließ er ihre Hand kein einziges Mal los und stolperte dauernd über irgendetwas. Und wenn er sich für taub ausgab, zuckte er nie mit der Wimper, auch nicht, wenn plötzlich eine plärrende Hupe an sein Ohr drang. Manchmal beschwerten sich seine Lehrer deswegen. Aber er tat ja nur so, es war ein Spiel. Welche Erklärung sollte es sonst dafür geben?
Während sie an Unni denkt, fällt ihr seltsamerweise der Schraubenzieher wieder ein, und sie fragt sich, weshalb. Wieso sollte Mariamma an einen Schraubenzieher denken? Hatte Unni ihr davon erzählt? Dann wird ihr klar, dass sie an diesem Morgenan den Schraubenzieher auf Ouseps Bücherregal gedacht hat. Dass er plötzlich in seinem Zimmer liegt, ist merkwürdig. Ousep war kein Bastler und hat wahrscheinlich noch nie im Leben einen Nagel eingeschlagen. Warum also liegt der Schraubenzieher im Zimmer eines Mannes, der nie etwas repariert? Weil er etwas auseinandernehmen will. Nur was?
Ihr ist, als hätte sie ihn gehört, weiß aber, dass sie sich vielleicht irrt. Einen Augenblick später ertönt sein gellender Schrei und beseitigt alle behaglichen Zweifel. Er ist irgendwo unten am Tor. Sie ballt die Fäuste und murmelt ein Ave Maria. Sie hört, wie er jeden, der in Block A wohnt, beim Namen nennt. Sie geht in Thomas Zimmer. Er hat seinen Vater gehört, tut aber so, als ob er schliefe. Sie flüstert ihm zu: «Keine Angst, Thoma. Es dauert nicht lange.»
«Warum laufen wir nicht einfach weg?», fragt er.
«Vielleicht ein andermal.»
«Auf was warten wir denn?»
«Alles hat seine Zeit. Wir warten auf den richtigen Moment.»
«Der ist doch schon da.»
«Nein, es ist noch nicht so weit.»
«Ich hab Angst», sagt er.
«Hab keine Angst, Thoma.»
«Das ist nicht so einfach.»
«Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin der Fels, Thoma, und ich werde nie weichen.»
Sie geht auf den vorderen Balkon und späht zwischen der schlaff an der Leine hängenden Wäsche nach unten. Ousep steht mit geöffneten Händen im Licht einer Straßenlaterne am Tor. Er kann sich kaum auf den Beinen halten und ruft immer noch die Namen der Blockbewohner. Er sagt laut ihre Namen, ihre Wohnungstürnummern und die Firmen, bei denen sie arbeiten.Selbst in diesem Zustand hat der Mann noch ein gutes Gedächtnis. Der Wachmann taucht in Unterwäsche aus der Dunkelheit auf und kommt, sich die Hose anziehend, angehüpft. Ousep sieht ihn an, legt die Hand um sein Kinn und verzieht das Gesicht. Der Wachmann zieht sich den Reißverschluss zu und steht aufrecht da. Er ist nervös und weiß nicht, was er tun soll. Deshalb holt er seine Trillerpfeife hervor und pfeift. Das bringt Mariamma zum Lachen. Ousep geht ein Stückchen weiter und hebt einen großen Stein auf. Einen Moment lang mustert der Wachmann den Stein, dann rennt er klug im Zickzack bis ans äußerste Ende der Spielwiese zu den viel zu reglosen Schaukeln. Schaukeln ohne Kinder; aus irgendeinem Grund erträgt sie den Anblick nicht.
Ousep zielt auf ein Fenster, dann auf ein anderes, wirft den Stein aber nicht. «Schlaft, meine Freunde, schlaft ruhig», sagt er und taumelt dabei mit hängenden Armen und gebeugtem Rücken nach links. Seine selbst für Mariamma überraschend kräftige, tiefe Stimme zerreißt die finstere Stille. «In euren Ehebetten liegt ihr und schlaft. Dort führt ihr Unsägliches auf. Lachnummern. Fehlschüsse. Unter den Augen seiner Frau tut ein Mann vieles. Dinge, die man nicht erzählen darf. Und trotzdem ist ein Mann bei seiner Frau in Sicherheit, oder etwa nicht? Wer kann das bestreiten? Ein Mann ist bei seiner Frau sicher aufgehoben. Weit entfernt vom Verrat verwaister Frauen und ihrer wilden Liebe. Lauft nie zu weit von zu Hause weg, meine Freunde. Still muss ein Mann durchs Leben gehen, denn große Gefahren lauern
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