Das verbotene Glück der anderen
die Lippen, was bedeutet, dass sie Geld gefunden hat. Weil er immer eine Riesenszene macht, wenn er es merkt, bestiehlt sie ihn normalerweise nicht.
Sie gehen zu Fuß zur Klinik auf der Arcot Road, die nicht weit weg ist. Weil er den Kopf nicht bewegen kann, ist das Kokosöl immer noch in seinem Ohr. «Lass es eine Weile drin, Thoma», sagt sie, als sie sich auf den Weg machen.
Unterwegs gerät sie in einen von ihren Zuständen. Sie fasst Thoma fest an der Hand und marschiert los wie eine Wilde. Mit nach innen gezogenen Lippen, den Blick irr auf die Straße gerichtet, denkt sie an ihre alten Feinde und hebt ab und zu drohend den Finger. Sie hat diese Anwandlungen in kurzen Abständen: Erst murmelt sie etwas, beißt sich auf die Lippen und droht mit dem Finger, und im nächsten Moment wirkt sie elegant und aufgeweckt, nur ihr Blick ist gedankenverloren, und sie leckt sich die Lippen, in Vorbereitung auf die nächste Anwandlung. Ein Mann, der auf sie zukommt, zuckt erschrocken zusammen, als sie plötzlich auf ihren Lippen kaut und mit dem Finger droht. Glücklicherweise sind so frühmorgens nicht viele Leute auf der Straße, doch die paar, die an ihnen vorbeigehen, betrachten sie neugierig.
Thoma hält die Schmach mit schräg gelegtem Kopf und dem Öl in seinem Ohr aus. Ab und zu sagt er leise zu ihr, sie solle sich doch normal benehmen, doch sie beachtet ihn nicht. Einen Momentlang neigt sie den Kopf ebenfalls ganz nach rechts und hebt den rechten Arm hoch, als mache sie eine Aufwärmübung. Die Leute sehen sie verständnislos an. Eine Frau und ein Junge gehen beide mit schief gestelltem Kopf, und niemand weiß, warum.
In der Sai-Poliklinik arbeiten zu dieser Stunde nur drei Ärzte, die jedoch mit einem Notfall beschäftigt sind. Thoma und seine Mutter wollen gar nichts Näheres wissen, sie warten kurz und beschließen dann, wieder zu gehen. Sie laufen denselben Weg nach Hause zurück, wobei Thomas Kopf fast waagrecht liegt und Mariamma immer wieder in Rage gerät.
An diesem Abend wird Thoma von seinem Vater geweckt, weil er seinen Nachruf schreiben soll. Mariamma sagt: «Lass ihn in Ruhe, er hat sich den Hals gebrochen.» Doch sie will sich diesmal nicht streiten. Thoma geht hinter seinem torkelnden, stolpernden Vater in dessen Schlafzimmer, wo die Lungischlinge schon vom Deckenventilator hängt, unter dem ein Stuhl steht. Ousep erklimmt den Stuhl, geht in Position und legt sich die Schlinge um den Hals. Thoma steht mit schiefem Kopf da, und beide starren sich an. «Mistkerl», sagt Ousep, «machst du dich etwa über mich lustig?»
«Mein Hals ist gebrochen», sagt Thoma.
Ousep will vom Stuhl steigen, doch die Schlinge hält ihn zurück. Er befreit sich daraus, nimmt Thoma bei der Hand und sagt: «Ich kümmere mich um dich, mein Sohn, ich bin dein Vater.»
Thoma geht also nochmals zur Sai-Poliklinik. Diesmal bringt ihn ein Mann dorthin, der kaum laufen kann. Es ist später Abend, und die lange, gerade Straße zur Klinik ist ausgestorben, nur dann und wann fährt ein Taxi vorbei oder eine Autorikscha, und die Insassen staunen über das Bild, das sich ihnen bietet: ein Betrunkener, der einen Jungen mit schiefem Kopf an der Handführt. Thoma ist zum Heulen zumute. Morgens wird er von einer Verrückten begleitet, abends von einem Trinker. Was für ein Leben. Er hat einen Kloß aus warmem Kummer im Hals.
An der Klinikpforte verweigert der Wächter Ousep den Zutritt, weil er sieht, in welchem Zustand er ist. Ousep wirft ihm seine Pressekarte hin und sagt: «Wissen Sie, wer ich bin?» Der Wächter schreit einem anderen Wächter im Inneren des Gebäudes zu: «Hier ist ein Mann, der vergessen hat, wer er ist. Hat der Psychiater heute Nacht Dienst?» Dann lachen die Wärter. Ousep droht, den Ministerpräsidenten von Tamil Nadu anzurufen. Der Wächter sagt: «Rufen Sie doch den Präsidenten von Indien an.» Ousep sagt kopfschüttelnd zu Thoma: «Dieser Schwachkopf weiß nicht, dass der Präsident nur Staatsoberhaupt ist und keinerlei Macht hat.»
Am Ende gewinnt der Wächter, und die beiden gehen wieder nach Hause. Diesmal muss Thoma seinen Vater führen, der oft stolpert und kaum stehen kann. So gehen sie die menschenleere Straße entlang – der Junge mit dem schiefen Kopf, der den Trinker nach Hause bringt.
Thoma sieht zwei Gestalten auf sie zukommen: ein Straßenkind, das seinen betrunkenen Vater führt. Als sie aneinander vorbeigehen, blicken Thoma und das Mädchen einander lächelnd an, so, als wollten sie sich
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